Weisst du eigentlich, dass du mir das Herz gebrochen hast
beamte mich in rasender Geschwindigkeit durch den Wind und den Nebel und die letzten Flecken Tageslicht, bis meine Füße wie Katzenpfoten auf dem kalten, steinigen Boden landeten. Mich fröstelte ein wenig, und ich versuchte, mich erst einmal zu orientieren. Im Halbdunkel sah ich die Schatten riesiger Erdbeerbäume, die den oberen Rand des Strands säumten. Ihre schwarz-rote Rinde schälte sich wie Papier vom Stamm.
Ich wusste nicht, wo ich Patrick suchen sollte, aber ich beschloss, vorerst am Strand zu bleiben, wenigstens bis ich die Insel besser einschätzen konnte. Denn die Wälder sahen nicht sehr einladend aus. »Ja«, sagte ich zu mir selbst, »auf jeden Fall am Strand bleiben.«
Vor allem bei Dunkelheit.
Doch als ich den Strand entlangging, der Mond hatte sich hinter einer Nebelbank versteckt, bemerkte ich, wie viel Treibgut überall herumlag, als hätte ein Tornado die Insel verwüstet. Und es war schwer, in der Dunkelheit nicht zu stolpern.
Die knirschenden Geräusche, die meine Schuhe verursachten, wenn ich über Felsen und Sand lief, machten mich wahnsinnig. Alles war fünfzigmal lauter als normal, und in mir kroch die Angst hoch. Allmählich hatte ich das Gefühl, dass diese kleine Expedition eine sehr, sehr schlechte Idee gewesen war.
Plötzlich blieb ich mit dem rechten Fuß an etwas hängen – einem Ast wahrscheinlich – und wäre beinahe mit dem Gesicht voran im Sand gelandet, fiel aber nur auf die Knie. Und da bemerkte ich etwas Seltsames. Der Sand roch … merkwürdig. Beinahe metallisch. Ich nahm eine kleine Handvoll davon auf und ließ die groben, feuchten Körnchen durch meine Finger rieseln.
»Was ist das?« Da erkannte ich plötzlich den Geruch und ließ den Sand erschrocken fallen. Ich erschauderte.
Blut. Der Sand roch nach Blut.
Eine Welle kam und überschwemmte meine Hände, meine Knie und die Schuhe. Und der Geruch wurde intensiver.
»O mein Gott!« Ich fuhr hoch und sah wie das zurückfließende Wasser dunkle Schlieren im Sand hinterließ. »Es ist – es ist im Wasser. Es ist überall.«
Mich packte das Grauen, meine Arme und Beine waren wie gelähmt. Ich wollte nichts wie weg von dieser Insel.
Sofort.
Ich wich einen Schritt zurück, stolperte dabei über ein riesiges Stück Treibholz und fiel auf den Rücken. Aus der Dunkelheit hörte ich ein leises Knurren, und ich wusste nur, dass es nicht von mir gekommen war.
Ich erstarrte, mir war so schwindelig und schlecht vor Angst, dass ich kaum Luft bekam.
»W-w-wer ist da?«, stotterte ich starr vor Schreck. Langsam – und so leise wie möglich – richtete ich mich auf und wischte mir den von Blut zusammengebackenen Sand von den Händen.
Niemand antwortete.
Vielleicht habe ich mir das Geräusch nur eingebildet?
Da kam der Mond hinter der Nebelbank hervor und warf ein gespenstisches Licht auf den Küstenstreifen. Endlich konnte ich das Treibgut besser erkennen, das überall auf dem Strand herumlag. Nur – es war kein Treibgut.
Es waren Körper.
Zu Hunderten und Aberhunderten lagen sie im Sand verstreut – ihre Glieder verdreht und gebrochen wie zerborstene Baumstämme; ihre Rippen und Schulterblätter unter der papierdünnen Haut gut zu erkennen, ihre ausgehöhlten, eingefallenen Wangen bleich schimmernd wie Schnee im Mondschein. Ich rang nach Luft und begann am ganzen Körper heftig zu zittern, während ich die Szene in mich aufnahm. Das war schlimmer als alles, was ich je in meinem Geschichtsbuch gesehen hatte. Ich stand inmitten eines kilometerlangen Meers von Gesichtern. Eines Meers von gebrochenen, elenden Seelen – nackt, blutend, monströs und zu Staub zerfallend.
Oder zu Sand.
Hektisch begann ich, den Sand von meinem Kleid, meinen Armen und meinem Gesicht zu wischen. Doch je mehr ich versuchte, ihn abzuklopfen, desto stärker schien er an mir haften zu bleiben. In meinen Schuhen, meinem Haar, unter meinen Fingernägeln, in meinem Mund. Ich hustete und spuckte aus, wieder und wieder versuchte ich, ihn von der Zunge zu kriegen, doch der Sand und mit ihm der Eisengeschmack waren hartnäckig. Und ich spürte die Feuchtigkeit, die in meine Poren sickerte und meine Hände rot färbte.
»Wo bist du?!«, schrie ich. »Patrick, bitte antworte mir!«
Da hörte ich plötzlich die Stimmen.
»Ich bin unschuldig … ich schwöre es bei meinem Leben, ich habe es nicht getan.«
»Du musst mir verzeihen. Bitte, will mir denn keiner verzeihen?«
»Mom? Mommy, bist du das?«
»Du hast mich belogen. Du hast mir in die
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