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Weisst du eigentlich, dass du mir das Herz gebrochen hast

Weisst du eigentlich, dass du mir das Herz gebrochen hast

Titel: Weisst du eigentlich, dass du mir das Herz gebrochen hast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jess Rothenberg
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– du kannst nie wissen, wie sein Leben wirklich ist.
    Zumindest nicht, wenn du ihn nicht danach fragst.
    Oder ihm nicht zuhörst.
    »Warum hast du mir nichts gesagt?«, flüsterte ich. »Warum hast du mir nie erzählt, was mit dir passiert ist?«
    Ihr Körper war mittlerweile so durchsichtig geworden, dass sie immer mehr die Farbe des Sandes annahm. »Ich weiß nicht«, sagte sie leise. »Ich glaube, manchmal tut es einfach zu sehr weh, sich zu erinnern.«
    »Larkin, ich …«
    »Deswegen bin ich zurückgegangen«, sagte sie und umklammerte meinen Arm fester als zuvor. »Deshalb habe ich meine Seele verkauft. Ich wollte zurückkehren und die Dinge wieder ins Lot bringen. Aber es war eine Falle, Brie. Ich habe versucht , andere Entscheidungen zu treffen, ich habe es wirklich versucht, aber es hat nichts genützt. Die Menschen haben mich trotzdem nicht wahrgenommen. Sie haben immer noch so getan, als sei ich unsichtbar.« Sie brach in Schluchzen aus.
    »Ist ja gut«, tröstete ich sie sanft. »Ich bin ja bei dir.«
    »Dadurch habe ich das hier bekommen.« Sie deutete auf ihr Tattoo. »So bin ich zur verlorenen Seele geworden.«
    Moment mal. Verlorene Seele? Wo hatte ich das nur schon mal gehört?
    Dann fiel es mir plötzlich wieder ein. Die Graffiti, die ich in der ganzen Stadt und auch auf den Ziegelsteinen beim Rabbit Hole gesehen hatte: Es war dasselbe Symbol gewesen wie auf Larkins Arm.
    »Das Schlimmste ist«, fuhr sie mit bebendem Kinn fort, »dass ich kurz davor war, dir dasselbe anzutun.« Sie zitterte nun so sehr, dass ich sie kaum noch verstehen konnte. »Ich wollte dir deine Seele stehlen, Brie. Ich wollte sie benutzen, um mich selbst zu retten. Um neu anzufangen … um wieder zu leben … und diesmal wirklich.«
    In meinem Kopf drehte sich alles. »Meinst du … meinst du wie bei einer Reinkarnation?«
    Sie nickte langsam. »Verlorene Seelen schleichen sich auf diese Weise seit Jahrtausenden ins Leben zurück. Sie versuchen, an das Kernstück einer neuen Seele zu kommen – an einen Gegenstand, der sie noch mit ihrem alten Leben verbindet –, um als ein neuer Mensch noch einmal von vorn beginnen zu können.« Sie lächelte müde. »Wie eine Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei-Karte.«
    Das Kernstück einer Seele. Ein Gegenstand, der sie noch mit ihrem alten Leben verbindet.
    Ich fasste an meinen Hals.
    Meine Kette.
    »Aber das Dumme daran ist« – Larkins Stimme zitterte – »dass es nur funktioniert, wenn dir jemand seine Seele gibt. Und wenn er sie dir nicht geben will … dann musst du sie nehmen.«
    Als sie nach einer kurzen Pause fortfuhr, hörte ich die Scham in ihrer Stimme. »Du musst sie stehlen.«
    Die Seele stehlen?
    »Es tut mir so leid«, sagte sie. »Ich hab mich so sehr nach einer zweiten Chance gesehnt. Ich wollte so gerne jemand anderer sein.« Ihre Augen flehten mich um Verzeihung an. »Ich wollte irgendjemand sein, nur nicht ich selbst.«
    Es war völlig unverständlich. Wie konnte sich ein so hinreißendes, kluges, lustiges Mädchen über einen so langen Zeitraum hinweg so einsam gefühlt haben? Und was noch schlimmer war, wie konnte niemand etwas davon bemerkt haben?
    Meine Augen füllten sich mit Tränen. »Ich wünschte, ich hätte davon gewusst. Ich wünschte, ich wäre für dich da gewesen. Ich wünschte, ich hätte etwas tun können …«
    »Aber das hast du. Du hast etwas getan.«
    »Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht.«
    »Ich habe mir schon immer eine Schwester gewünscht«, flüsterte sie. »Und nachdem du in die Stadt gekommen warst, hatte ich eine. Mein Wunsch wurde erfüllt. Dafür bin ich dir sehr dankbar.« Sie drückte meine Hand und versuchte zu lächeln. Dann hob sie ihre beinahe durchsichtige Hand und berührte mein Gesicht. »Wirst du mir noch einen letzten Gefallen tun? Bitte?«
    Ich nickte. »Alles, was du willst.«
    »Vergiss mich nicht.« Ihre Augen glänzten, und ich konnte die Angst darin sehen. »Es ist hier zu einfach, jemanden zu vergessen. Vergiss mich nicht, Brie.«
    »Schh. Sag so etwas nicht. Alles wird gut. Du kommst wieder in Ordnung.«
    Aber noch während ich das sagte, fühlte ich, wie das Leben aus ihr wich. Ihre Hand wurde schlaff und fiel in den Sand. Ich sah, wie ihre Augen ein letztes Mal kurz aufflackerten und dann für immer erstarrten.
    »Larkin?« Meine Stimme hallte über den Strand. »Larkin?« Ich schüttelte sie, aber sie bewegte sich nicht mehr. Ich beugte mich zu ihr hinunter und nahm sie weinend in die Arme.

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