Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
Vom Netzwerk:
Ich folgte dem Jungen und verlor auch ihn bald aus den Augen. Das Dunkel der Wüstennächte ist schwer zu beschreiben, wie dunkel es tatsächlich ist.
    Ich rannte durch die Nacht. Ich rannte, weil mir niemand gesagt hatte, ich solle aufhören. Ich rannte und lauschte dabei auf meinen Atem, laut wie ein Zug, ich rannte und hielt die Arme vor mir ausgestreckt, zum Schutz gegen Bäume und Büsche. Ich rannte, bis ich von etwas gepackt wurde. Ich war gerannt, so schnell ich konnte, und dann wurde ich gestoppt, hing fest wie ein Insekt am Seidenfaden einer Spinne. Ich versuchte, mich zu befreien, aber ich war durchbohrt worden. Schmerz flammte überall auf. Zähne bohrten sich in mein Bein, meinen Arm. Ich verlor das Bewusstsein.
    Als ich erwachte, war ich noch immer an derselben Stelle, und das Licht schob allmählich das Dach vom Himmel. Ich hing an einem Zaun aus zwei parallelen Stahldrähten mit Stacheln, die wie Sterne geformt waren. Der Zaun hatte mein Hemd an zwei Stellen gepackt, und einer der Sterne steckte tief in meinem rechten Bein. Ich löste mein Hemd und hielt den Atem an, als der Schmerz im Bein deutlich spürbar wurde.
    Ich befreite mich selbst, aber mein Bein blutete heftig. Ich umwickelte es mit einem Blatt, aber ich konnte nicht gehen und dabei gleichzeitig die Wunde zudrücken. Der Himmel färbte sich rosa, und ich ging in die Richtung, wo ich die anderen Jungen vermutete.
    – Wer ist da?
    Eine Stimme drang aus dem Dickicht.
    – Ein Junge, sagte ich.
    Kein Mensch war zu sehen. Die Stimme schien förmlich aus der rosafarbenen Luft zu kommen.
    – Warum gehst du so, mit einer Hand auf dem Bein?
    Ich wollte kein Gespräch mit der Luft führen, also sagte ich nichts.
    – Bist du ein zorniger Junge oder ein glücklicher Junge?, fragte die Stimme.
    Ein Mann tauchte auf, mit einem runden Bauch und einem Hut auf dem Kopf, ein blauer Schatten vor dem pulsierenden Himmel. Er kam langsam auf mich zu, als sei ich ein gefangenes Tier. Der rundbäuchige Mann hatte einen seltsamen Akzent, und ich konnte seinen Worten kaum folgen. Ich wusste nicht, welche Antwort richtig war, daher beantwortete ich eine andere Frage.
    – Ich bin einer der Jungen, die gehen, Vater.
    Jetzt war der Mann bei mir. Sein Hut hatte ein Tarnmuster, wie die Uniform des Soldaten Mawein. Aber die Tarnung dieses Mannes war besser: Sie verschmolz vollkommen mit der Landschaft, ihren Braun-und Grautönen. Sein Alter war nicht auszumachen, irgendwo zwischen Duts Alter und dem meines Vaters. In gewisser Weise ähnelte er meinem Vater, mit seinen schmalen Schultern, den geschmeidigen und aufrechten Bewegungen. Aber der Bauch dieses Mannes war voll, übervoll. So einen dicken Mann hatte ich seit der letzten Wahl des Dicksten in meinem Dorf nicht mehr gesehen, ein jährliches Ritual, das mit Beginn des Krieges aufgegeben worden war. Dafür nahmen die Männer aus der ganzen Gegend monatelang so viel Milch zu sich, wie sie nur konnten, und bewegten sich möglichst wenig. Der dickste Mann mit dem mächtigsten Bauch gewann. Der Wettbewerb konnte wegen des Bürgerkriegs seitdem nicht mehr wiederholt werden, aber der Mann vor mir hätte Aussichten auf einen Sieg gehabt.
    – Lass mal sehen, warum du dir das Bein hältst, sagte er und ging vor meinem Knie in die Hocke.
    Ich zeigte ihm die Wunde.
    – Aha. Hmm. Der Stacheldraht. Dagegen habe ich was. Bei mir zu Hause. Komm mit.
    Ich folgte dem rundbäuchigen Mann, weil ich zu müde war, um an Flucht zu denken. Jetzt sah ich weiter vorn die Hütte des Mannes, die einen stabilen Eindruck machte, mit absolut nichts drum herum. Es gab keinerlei Anzeichen von Menschen.
    – Soll ich versuchen, dich zu tragen?, fragte er.
    – Nein. Danke.
    – Ah ah ah, verstehe. Du hast deinen Stolz. Du bist einer von den Jungen, die nach Äthiopien wollen, um Soldat zu werden.
    – Nein, sagte ich. Ich war sicher, dass er sich irrte.
    – Die Jaysh al-Ahmar?, sagte er.
    – Nein, nein, sagte ich.
    – Die Jaysh al-Ahmar, die Rote Armee? Ja. Ich hab euch vorbeiziehen sehen.
    – Nein. Wir gehen bloß. Wir gehen nach Äthiopien. Wegen der Schule.
    – Erst Schule, dann Armee. Ja, ich denke, so ist es am besten. Komm rein und setz dich einen Moment. Ich versorge dein Bein.
    Ich blieb kurz vor der stattlichen Hütte des Mannes stehen. Er wusste nicht, wer ich war, aber er glaubte etwas über mich zu wissen. Er hatte Jungen in meinem Alter vorbeiziehen sehen, und er nannte sie die Rote Armee, genau wie Mawein das getan hatte. Der

Weitere Kostenlose Bücher