Weit Gegangen: Roman (German Edition)
auf, wenn du in einer halben Stunde noch nicht behandelt worden bist, rufst du mich wieder an. Wenn dann immer noch kein Arzt bei dir war, knöpfe ich mir die Leute vor. Ich kenne da ein paar Tricks.«
Ich danke Deb und habe das Gefühl, dass sie wirklich etwas bewegt hat. Sie seufzt diesen müden Seufzer, den ich schon oft gehört habe. Deb ist eine resolute Frau, aber der Umgang mit mir habe ihren Optimismus auf eine harte Probe gestellt, sagt sie.
»Valentino, ich begreife einfach nicht, was Gott gegen dich hat«, sagt sie.
Wir lassen diesen Gedanken eine Weile im Raum stehen. Wir wissen beide, dass es da eine Frage gibt, die noch nicht beantwortet wurde.
»Ruf mich an, wenn du deine Diagnose hast«, sagt sie. »Wenn es etwas Ernstes ist, lassen wir dich herfliegen, und wir gehen zu meinem Arzt. Aber ich denke, die kriegen dich wieder hin. Ruf mich an.«
Ich bin in Debs Heimatland, und wenn Deb sagt, dass man mich behandeln wird, dass es nicht um Geld oder die Krankenversicherung geht, dann glaube ich ihr.
Ich gehe zurück ins Wartezimmer zu Lino und Achor Achor, die wieder telefonieren und mit etlichen Gästen auf der Hochzeit in Manchester sprechen. Ihr lautes Geplapper und die Tatsache, dass er sich Deb gegenüber erklären musste, schlagen Julian sichtlich auf die Stimmung. Ich möchte weder ihm noch Deb noch sonst jemandem zur Last fallen. Ich möchte unabhängig sein und mich in der Welt bewegen, ohne Fragen stellen zu müssen. Aber im Augenblick habe ich noch immer zu viele Fragen, und das ist frustrierend für jemanden wie Julian, der meint, alle Antworten zu kennen und mich zu kennen. Aber, Julian, du weißt gar nichts.
XVII.
Der lange Weg nach Äthiopien war erst der Anfang, Julian. Ja, wir waren monatelang durch Wüsten und Sümpfe marschiert, waren täglich weniger geworden. Im gesamten Süden des Sudan herrschte Krieg, aber in Äthiopien, so hatte man uns gesagt, würden wir sicher sein, dort gäbe es zu essen, trockene Betten, Schulen. Ich muss zugeben, dass ich meiner Fantasie unterwegs gestatte, Blüten zu treiben. Als wir der Grenze näher kamen, erhoffte ich unter anderem für jeden von uns ein neues Zuhause, eine neue Familie, große Gebäude, Fensterscheiben, Wasserfälle, Schalen voll mit leuchtenden Orangen auf sauberen Tischen.
Aber als wir Äthiopien erreichten, war es ganz anders.
– Wir sind da, sagte Dut.
– Das kann es nicht sein, sagte ich.
– Das ist Äthiopien, sagte Kur.
Es sah alles gleich aus. Es gab keine Gebäude, keine Fensterscheiben. Es gab keine Schalen mit Orangen auf sauberen Tischen. Es gab nichts. Es gab einen Fluss und sonst kaum etwas. – Das kann es nicht sein, sagte ich erneut, und in den Tagen danach sagte ich es noch viele Male. Die anderen Jungen wurden meiner überdrüssig. Manche dachten, ich habe den Verstand verloren.
Zugegeben, es gab eine gewisse Sicherheit, eine gewisse Ruhe, nachdem wir Äthiopien erreicht hatten. Wir konnten stehen bleiben, und das war seltsam. Es war seltsam, nicht zu gehen. An jenem ersten Abend schliefen wir dort, wo wir auch schon gegessen hatten. Ich war daran gewöhnt, jeden Tag zu gehen, nachts und wenn der Morgen dämmerte, jetzt aber blieben wir, wo wir waren, als die Sonne aufging. Soweit das Auge reichte, lagen überall Jungen auf der Erde, und manche von ihnen konnten nur noch sterben.
Von überall waren Wehlaute zu hören. In der Stille der Nacht drangen Schreie und Stöhnen durch das Summen der Heuschrecken und Frösche, breiteten sich über das Lager aus wie ein Unwetter. Es war, als hätten viele der Jungen nur darauf gewartet, sich ausruhen zu können, und jetzt, da wir in Pinyudo waren, setzten ihre Körper aus. Jungen starben an Malaria, an Ruhr, an Schlangenbissen, an Skorpionstichen. Andere Krankheiten bekamen gar keine Namen.
Wir waren in Äthiopien, und wir waren zu viele. Innerhalb von Tagen waren Tausende von Jungen angekommen, und kurz nach den Jungen trafen Erwachsene, ganze Familien mit Babys ein, und das Land wurde von Sudanesen überschwemmt. In wenigen Wochen entstand eine Flüchtlingsstadt. Das ist ein unvergessliches Bild, Menschen, die einfach dasitzen, umgeben von Rebellen und äthiopischen Soldaten, und darauf warten, etwas zu essen zu bekommen. Daraus wurde das Flüchtlingslager Pinyudo.
Da so viele ihre Kleidung unterwegs verloren oder eingetauscht hatten, trug nur die Hälfte von uns überhaupt etwas am Leib. Es entwickelte sich ein Klassensystem, in dem die Jungen, die noch
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