Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Hemd, Hose und Schuhe hatten, als die reichsten galten. Dann kamen diejenigen, die zwei dieser drei Kleidungsstücke besaßen. Ich konnte mich glücklich schätzen, der gehobenen Mittelschicht anzugehören, da ich noch ein Hemd, zwei Schuhe und Shorts besaß. Aber zu viele Jungen waren nackt, und das war problematisch. Sie waren gegen gar nichts geschützt.
– Wartet ab, sagte Dut zu uns. – Es wird besser.
Dut hatte jetzt alle Hände voll zu tun; er war andauernd im Camp unterwegs, hatte ständig Besprechungen mit den Ältesten, verschwand manchmal tagelang. Wenn er zurückkam, besuchte er uns, die Jungen, die er hergeführt hatte, und versicherte uns, wir würden uns in Pinyudo bald wie zu Hause fühlen.
Eine ganze Weile waren wir jedoch ausschließlich damit beschäftigt, etwas Essbares aufzutreiben. Wie viele Jungen ging ich zum Fluss, um zu fischen, obwohl ich darin keinerlei Erfahrung hatte. Wenn ich ans Wasser kam, waren da überall Jungen, manche mit Stöcken und Leinen, andere mit selbst gemachten Speeren. An meinem ersten Tag brachte ich einen krummen Stock und ein Stück Draht mit, das ich unter einem Lastwagen gefunden hatte.
– Damit geht das nicht, sagte ein Junge zu mir. – So fängst du gar nichts.
Er war ein dünner Junge, so dünn wie der Stock in meiner Hand. Er wirkte schwerelos, schien sich im schwachen Wind leicht nach links zu neigen. Ich antwortete ihm nicht und warf meinen Draht ins Wasser. Ich wusste, dass er meine Erfolgsaussichten wahrscheinlich richtig einschätzte, aber das konnte ich nicht zugeben. Seine Stimme war eigenartig hoch, melodisch, zu angenehm, um ihr zu trauen. Überhaupt, wer war er und wieso bildete er sich ein, so mit mir reden zu können?
Er hieß Achor Achor, und an jenem Nachmittag half er mir, einen geeigneten Stock und ein Stück Leine zu finden. An diesem Tag und an den Tagen danach wateten wir mit unseren Angelruten und einem Speer, den Achor Achor sich geschnitzt hatte, ins Wasser. Wenn einer von uns einen Fisch sah, trieben wir ihn in die Enge, und Achor Achor versuchte dann, ihn mit dem Speer aufzuspießen. Wir hatten keinen Erfolg. Manchmal fanden wir in einem flachen Tümpel einen toten Fisch, und dann brieten wir den Fisch oder aßen ihn manchmal auch roh.
Achor Achor wurde mein bester Freund in Äthiopien. In Pinyudo war er so klein wie ich, sehr dünn, sogar noch magerer als wir Übrigen, aber sehr schlau und gewieft. Er war Experte darin, brauchbare Dinge zu finden, ehe wir überhaupt wussten, dass wir sie brauchten. So fand er zum Beispiel eines Tages eine leere, durchlöcherte Dose und verwahrte sie. Er brachte sie in unsere Unterkunft, säuberte sie und flickte die Löcher, bis sie einen prima Becher abgab – und nur wenige Jungen hatten Becher. Irgendwann fand er eine richtige Angelschnur und ein großes intaktes Moskitonetz und Sisalsäcke, die groß genug waren, um sie zusammenzubinden und als Decke zu verwenden. Immer teilte er alles mit mir, obwohl ich nicht hätte sagen können, was ich zu unserer Partnerschaft beitrug.
Manche Nahrungsmittel wurden von der äthiopischen Armee geliefert. Soldaten rollten Fässer mit Mais und Pflanzenöl ins Lager, und wir aßen jeder einen Teller davon. Ich fühlte mich besser, aber viele Jungen überfraßen sich und wurden kurz darauf krank. Wir tauschten alles, was wir hatten, im nahe gelegenen Dorf gegen Mais oder Maismehl. Bald lernten wir, welche Wildpflanzen essbar und leicht zu finden waren, und wir zogen los, um sie zu sammeln. Doch da im Laufe der Zeit immer mehr Jungen kamen, nahm die Zahl der Pflanzensammler zu, bis irgendwann kaum noch etwas zu finden war und die Quelle schließlich ganz versiegte.
Jeden Tag trafen mehr Jungen und auch ganze Familien ein. Jeden Tag sah ich sie den Fluss überqueren. Sie kamen am Morgen und sie kamen am Nachmittag, und wenn ich erwachte, waren über Nacht noch mehr angekommen. An manchen Tagen kamen Hunderte, an manchen Tagen noch viel mehr. Manche Gruppen sahen aus wie die, mit der ich gekommen war, Hunderte von ausgezehrten Jungen, die Hälfte von ihnen nackt, mit einigen wenigen Erwachsenen. Andere Gruppen bestanden nur aus Frauen und Mädchen und Babys, die von jungen SPLA-Offizieren mit Gewehren auf dem Rücken begleitet wurden. Der Menschenstrom riss nicht ab, und jedes Mal, wenn sie den Fluss überquerten, wussten wir, dass die Lebensmittel, die wir hatten, noch weiter aufgeteilt werden mussten. Der Anblick meiner eigenen Landsleute erfüllte mich
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