Weit Gegangen: Roman (German Edition)
weitergehen – es gab zu viele Geräusche, jedes ein möglicher Vorbote des Todes. Wir gingen über schmale Pfade durch den Busch, und wir fühlten uns gejagt. Als wir noch zu Hause bei unseren Familien waren, gingen wir nachts nie in den Wald, weil kleine Menschen ohne viel Aufsehen von Tieren gefressen wurden. Jetzt aber zogen wir fort von zu Hause, von unseren Familien. Wir gingen in einer Reihe, Hunderte Jungen, viele von uns nackt, alle wehrlos. Im Wald waren wir Jungen Nahrung. Wir zogen durch Wälder und durch Savannen, durch Wüstenlandschaften und durch die grüneren Gebiete des Südsudan, wo die Erde unter unseren Füßen oft nass war.
Ich erinnere mich an den ersten Jungen, der geholt wurde. Wir gingen wie immer im Gänsemarsch, und Deng hielt sich wie immer hinten an meinem Hemd fest. Er und ich gingen in der Mitte der Reihe, denn wir hatten beschlossen, dass es da am sichersten war. Die Nacht war hell, hoch über uns der Halbmond. Deng und ich hatten ihn aufsteigen sehen, zuerst rot, dann orange und gelb und dann weiß und schließlich silbern, als er den höchsten Punkt des Himmelsgewölbes erreichte. Das Gras auf beiden Seiten war hoch und die Nacht war stiller als sonst. Zuerst hörten wir das Rascheln. Es war laut. In unserer Nähe bewegte sich ein Tier oder ein Mensch durchs Gras, aber wir gingen weiter, weil wir immer weitergingen. Wenn irgendein Junge nachts schrie, wies Dut Majok, der Lehrer und wohl oder übel unser Anführer war, ihn rasch und erbost zurecht. In der Nacht etwas zu rufen war verboten, es konnte unwillkommene Aufmerksamkeit auf die Gruppe lenken. Manchmal wurde eine Botschaft im Flüsterton durch die Reihe geschickt – wenn ein Junge verletzt oder zusammengebrochen war –, bis sie schließlich bei Dut ankam. Doch in jener Nacht vermuteten Deng und ich, dass alle das Rascheln im Gras mitbekommen und als normal und nicht bedrohlich eingestuft hatten.
Bald darauf wurden die Geräusche im Gras lauter. Äste brachen. Gras knackte und wurde wieder still, wenn das Wesen beschleunigte und verlangsamte und entlang unserer Reihe auf und ab lief. Die Geräusche begleiteten unsere Gruppe eine ganze Weile. Der Mond stand hoch, als die Bewegung im Gras begann, und der Mond ging unter und erblasste, als das Rascheln endlich aufhörte.
Der Löwe war eine schlichte schwarze Silhouette, breite Schultern, die dicken Läufe ausgestreckt, das Maul geöffnet. Er sprang aus dem Gras, riss einen Jungen mit sich. Diesen Teil konnte ich nicht sehen, weil die Reihe vor mir meine Sicht behinderte. Ich hörte einen kurzen Aufschrei. Dann sah ich den Löwen wieder deutlich, als er auf die andere Seite des Pfades trottete, den Jungen fest im Maul. Das Tier und seine Beute verschwanden im hohen Gras, und gleich darauf hörte das Schreien auf. Der Name des ersten Jungen war Ariath.
– Hinsetzen!, schrie Dut.
Wir setzten uns, als hätte der Wind uns alle umgeweht, einer nach dem anderen vom Anfang der Reihe bis ganz nach hinten. Ein Junge, ich weiß noch, dass er Angelo hieß, rannte weg. Er dachte, es wäre besser, vor dem Löwen wegzulaufen als sich hinzusetzen, also rannte er in das hohe Gras. In diesem Moment sah ich den Löwen erneut. Das Tier setzte mit einem Sprung erneut über den Pfad und packte Angelo. Kurz darauf trug der Löwe den zweiten Jungen im Maul, die Zähne tief in Angelos Hals und Schlüsselbein geschlagen. Er schleppte den Jungen zu der Stelle, wo er Ariath abgelegt hatte.
Wir hörten ein Wimmern, doch bald war das Gras still.
Dut Majok blieb eine Weile stehen. Er konnte sich nicht entscheiden, ob wir weitergehen oder sitzen bleiben sollten. Ein großer Junge, Kur Garang Kur, nach Dut der älteste von uns, schlich an der Reihe entlang zu Dut und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dut nickte. Es wurde beschlossen, dass wir weitergehen sollten, und das taten wir. Von da an wurde Kur zum wichtigsten Berater Dut Majoks und zum Anführer der Gruppe, wenn Dut manchmal tagelang verschwand. Gott sei Dank gab es Kur, ohne ihn hätten wir noch viel mehr Jungen verloren, an Löwen und Bomben und an den Durst.
Nach dem Angriff des Löwen wollten wir in jener Nacht nicht anhalten. Wir seien nicht müde, sagten wir, und könnten bis zum Morgen weitergehen. Aber Dut sagte, wir müssten schlafen. Er spürte, dass Soldaten der Regierungsarmee in der Nähe waren. Wir müssten schlafen und am nächsten Morgen die Gegend, in der wir uns befanden, etwas genauer erkunden. Wir glaubten Dut kein Wort, weil
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