Weit Gegangen: Roman (German Edition)
bewohnt wurden. Sechs von uns wurde befohlen, die Dächer neu zu decken, und Isaac und ich waren gerade damit zugange, als Kommandant Geheim auftauchte.
– Ab in den Wald mit euch beiden. Wir haben kein Brennholz mehr.
Ich versuchte, so förmlich und höflich zu sein wie nur möglich, und antwortete:
– Nein, Sir, ich möchte mich nicht von Löwen auffressen lassen.
Kommandant Geheim war empört. – Dann wirst du geschlagen!
So köstliche Worte hatte ich noch nie vernommen. Ich würde mich liebend gern schlagen lassen, Hauptsache, ich entkam der Gefahr, aufgefressen zu werden. Kommandant Geheim führte mich zu den Baracken und schlug mich mit einem Rohrstock auf Beine und Hintern. Er schlug fest, aber nicht brutal zu. Als es vorbei war, unterdrückte ich ein Lächeln. Ich hatte das Gefühl, einen Sieg errungen zu haben, und während ich davonlief, konnte ich nicht anders, als mir und der Nachtluft ein Lied zu singen.
Kurz darauf wollte überhaupt kein Junge mehr in den Wald, und die Prügelstrafen mehrten sich. Und ebenso wie die Prügelstrafen mehrten sich auch die Methoden, die wir uns einfallen ließen, um die Wucht der Schläge zu mindern. Ein umfassendes Kleidungsverleihsystem wurde entwickelt, für all jene, denen der Rohrstock drohte. Normalerweise wusste der Betroffene wenigstens einige Stunden früher, was ihm blühte, sodass ihm genügend Zeit blieb, sich so viel Unterwäsche und Shorts zu borgen, wie er glaubhaft tragen konnte. Die Bestrafungen fanden meist nachts statt, und dafür dankten wir Gott, denn so fiel unsere zusätzliche Polsterung nicht weiter auf.
Nach einigen Wochen befahlen die Lehrer aus Trägheit, oder weil sie meinten, uns so eine gewisse militärische Disziplin beibringen zu können, dass wir uns gegenseitig für die unterschiedlichsten Übertretungen bestrafen sollten. Anfangs machten einige Jungen zwar tatsächlich Ernst mit den Schlägen – ihr Enthusiasmus kam sie aber letztlich teuer zu stehen –, doch irgendwann lief es so, dass der Bestrafer nicht auf den Hintern des Opfers, sondern auf den Boden eindrosch, während beide die üblichen Laute von Anstrengung und Schmerz ausstießen.
Die neue militärische Strenge war ein Ärgernis, doch andererseits fühlten wir uns stark, und niemand starb. Die meisten von uns nahmen noch immer zu und konnten arbeiten und rennen. Es gab genug zu essen, und das Essen lieferte uns sogar die einzige verlässliche Entschuldigung dafür, uns nicht an der Nachmittagsarbeit zu beteiligen: In unseren Zwölfergruppen wurde jedem ein Kochtag zugewiesen, und der Junge, der gerade Dienst hatte, durfte die Schule und den anschließenden Arbeitseinsatz ausfallen lassen, da er ja für die elf anderen kochen musste. Einmal im Monat wurden von einem Lastwagen herab Lebensmittel verteilt. Wir mussten sie ins Camp schleppen, wo sie in Wellblechschuppen gelagert wurden. Die Säcke mit Maismehl, weißen Bohnen und Linsen und die Behälter mit Pflanzenöl waren so groß wie manche von uns und konnten oft nur zu zweit getragen werden.
Jeder zwölfte Tag war ein freier und damit auch ein guter Tag. In den Nächten davor schlief ich lächelnd ein, und je näher der Tag rückte, desto ausgelassener wurde meine Stimmung. Wenn er dann kam, schlief ich, nachdem die Elf zum Paradeplatz und danach zur Schule gegangen waren, ein bisschen länger, und überlegte mir nach dem Aufstehen, was ich kochen würde. Ich dachte darüber nach, während ich zum Wasserholen an den Fluss ging, und ich dachte auf dem Rückweg darüber nach. Linsensuppe war so ziemlich das Einzige, was wir zum Mittagessen machen konnten, und die meisten der Elf begnügten sich damit, sie zu kochen und zu essen, aber als Anführer der Gruppe versuchte ich, an meinen Kochtagen etwas Besseres zustande zu bringen, etwas, was der Elf das Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein.
Ich überprüfte unsere Vorräte, ob wir vielleicht von irgendetwas noch eine Extraportion hatten, die ich eintauschen konnte. Wenn wir zum Beispiel eine Extraportion Reis hatten, konnte ich sie am Fluss gegen einen Fisch eintauschen. Mit einem Fisch konnte ich Fischsuppe kochen, das Leib-und Magengericht der Elf. Während sie also in der Schule saßen, bereitete ich die Suppe zu und dachte bereits ans Abendessen. Doch es dauert nicht den ganzen Tag, eine Suppe zu machen, und so blieb mir noch etwas Freizeit. Selbst wenn einer der Ältesten mich beim Ausruhen ertappte, konnte ich ihm sagen: »Ich habe heute Kochtag«, und schon
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