Weit Gegangen: Roman (German Edition)
jedes Mal eine kleine Vorstellung daraus. Dann zeigte er wahllos auf irgendetwas, ließ den Blick zum Horizont schweifen und verkündete: »Siehst du den Baum, Jaysh al-Ahmar? Potenzielle Nahrung. Den Reifen da? Potenzielle Nahrung. Den Dunghaufen dort, den Berg alte Schuhe? Potenzielle Nahrung!«
Als der Herbst kam, war die Verwandlung des Lagers fast abgeschlossen. Es war jetzt straff militärisch organisiert, mit strengen Vorschriften, regelmäßigen und unterschiedlichen Arbeiten für uns alle, und es war wesentlich deutlicher geworden, zu welchem Zweck wir in erster Linie da waren: Wir sollten genährt und gestärkt werden für den Kampf, in den wir ziehen sollten, sobald wir groß genug waren oder die SPLA verzweifelt genug, um uns einzusetzen – je nachdem, was zuerst eintrat. Viele Lehrer waren von ihrer Ausbildung in Bonga zurückgekehrt, und das Marschieren begann. Jeden Morgen mussten wir auf dem Paradeplatz in Reihen antreten und Turnübungen machen. Dann wurden unsere Hacken und Spaten zu imaginären AK-47 umfunktioniert und wir marschierten unter Absingen patriotischer Lieder auf dem Paradeplatz auf und ab. Danach wurde uns täglich mitgeteilt, welche neuen Vorschriften und Regeln eingeführt worden waren. An neuen Richtlinien und Verboten herrschte anscheinend kein Mangel.
– Ich weiß, dass die meisten von euch Jungen jetzt Englisch lernen, sagte eines Tages ein neuer Lehrer. Er war frisch aus Bonga eingetroffen und bekam rasch den Spitznamen Kommandant Geheim verpasst, – und einige sind schon ganz gut darin. Aber ich warne euch, euer Englisch dazu zu benutzen, mit den ausländischen Helfern hier im Camp zu reden. Es ist euch verboten, mit Nichtsudanesen zu reden, ob Schwarze oder Weiße. Habt ihr verstanden?
Wir sagten, dass wir verstanden hatten.
– Falls ein Helfer euch irgendeine Frage stellt, verhaltet ihr euch so zurückhaltend wie möglich. Es ist besser für das Camp und für euch persönlich, wenn ihr nicht mit den Helfern sprecht, selbst wenn sie euch etwas fragen. Habt ihr verstanden?
Wir versicherten Kommandant Geheim, dass wir verstanden hatten.
– Eins noch: Solltet ihr je nach der SPLA gefragt werden, sagt ihr, dass ihr nichts darüber wisst. Ihr wisst nicht, was die SPLA ist, ihr habt noch nie einen Angehörigen der SPLA gesehen, ihr wisst absolut nicht, wofür diese Buchstaben stehen. Ihr seid bloß Waisenjungen, die hier sind, weil sie hier in Sicherheit sind und zur Schule gehen können. Ist das klar?
Letzteres war für uns weniger verständlich, aber die Unterscheidung zwischen UN und SPLA sollte in den kommenden Monaten deutlicher werden. Je stärker die UN präsent war, Monat für Monat trafen neues Material und neue Geräte ein, umso stärker wurde auch der Einfluss der SPLA im Camp. Und die beiden Seiten beherrschten sogar unterschiedliche Tageszeiten. Bis zum Einbruch der Nacht drehte sich im Lager alles um Bildung und Ernährung, wir besuchten den Unterricht, aßen gesund und wirkten auf die UN-Beobachter in jeder Hinsicht einfach nur wie eine Riesenschar elternloser Kinder. Nachts jedoch gehörte das Camp der SPLA: Sie holte sich ihren Anteil an den Nahrungsmitteln ab, die an uns und die anderen Flüchtlinge verteilt worden waren, dann wurden Einsätze und Strafmaßnahmen durchgeführt. Jeder Junge, der den Unterricht geschwänzt oder irgendwie über die Stränge geschlagen hatte, wurde mit dem Stock gezüchtigt, und für viele der bis auf die Knochen abgemagerten Jungen konnte so eine Prügelstrafe verheerend, ja sogar tödlich sein. Das geschah natürlich nur nachts, nicht vor den Augen der internationalen Beobachter.
Die Jungen im Camp waren geteilter Meinung über die Rebellenführer. Viele, vielleicht sogar die meisten, konnten es kaum erwarten, endlich in Bonga mit der Grundausbildung anzufangen, ein Gewehr zu bekommen, töten zu lernen, ihre Dörfer zu rächen, Araber zu töten. Aber es gab auch viele wie mich, die nichts mit dem Krieg zu tun haben wollten, denen es nur darum ging, Lesen und Schreiben zu lernen, die darauf warteten, dass dieser Wahnsinn ein Ende hatte. Und die SPLA machte es ihnen nicht gerade leicht, für sie, für ihre Armee, zu kämpfen. Seit Monaten hatte ich Gerüchte über das Elend in Bonga gehört, wie hart die Ausbildung dort war, wie streng und unerbittlich. Da drüben starben Jungen, das wusste ich, obwohl es ständig neue Aussagen darüber gab, die unmöglich zu bestätigen waren. Erschöpfung, Prügelstrafen. Jungen
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