Weit Gegangen: Roman (German Edition)
können, hier hält mich wenig. Aber sie ging aufs College, und ich wollte das Semester beenden, und so hatten wir das Gefühl, da bleiben zu müssen, wo wir waren. Zahllose Male habe ich unsere mangelnde Entschlossenheit verdammt. Falls ich je wieder lieben sollte, dann werde ich nicht zögern, so gut zu lieben, wie ich nur kann. Wir dachten, wir seien jung und hätten Zeit, irgendwann in der Zukunft richtig zu lieben. Das ist eine schreckliche Haltung. Wer mit der Liebe wartet, lebt nicht richtig.
Ich stehe vor meiner eigenen Wohnungstür, und ich denke, dass ich nun doch nicht hineingehen werde. Ich weiß nicht, wieso ich überhaupt auf den Gedanken gekommen bin, nach Hause zu gehen. Da drin ist mein Blut noch immer auf dem Teppich, und ich werde allein sein. Ob ich Edgardo besuchen kann? Ich war nie bei ihm zu Hause, und ich glaube, es ist ein schlechter Zeitpunkt für einen unangekündigten Besuch.
Ich will hier weg, will einfach wegfahren, aber meine Autoschlüssel sind in der Wohnung. Ich ringe ein paar Sekunden lang mit mir, ob ich es ertragen kann, lange genug in der Wohnung zu sein, um sie zu holen. Ich sage mir, dass ich es kann, und schließe auf.
Drinnen kommt mir Tonyas Erdbeergeruch entgegen und schwächer auch der Geruch des Jungen. Er ist süßlich, ein Jungengeruch, der Geruch eines unruhig schlafenden Jungen. Ich halte den Kopf gerade, meide den Blick auf das Blut auf dem Boden oder auf die Couchpolster, die vielleicht noch immer auf dem Teppich liegen. Ich sehe meine Schlüssel auf der Küchentheke, greife sie rasch mit einer Hand und gehe schnell wieder hinaus. Sogar die zufallende Tür klingt jetzt anders.
Ich steige in mein Auto und überlege, ob ich hier eine Stunde schlafen sollte, auf dem Parkplatz, ehe ich zur Arbeit muss. Aber hier bin ich ihnen zu nahe, den Angreifern, ihrem Auto, den christlichen Nachbarn, jedem, der an dem Geschehen teilhatte oder es ignorierte. Ich überschlage die anderen Möglichkeiten. Ich könnte zu einem Park fahren und dort schlafen. Ich könnte irgendwo frühstücken gehen. Ich könnte zu den Newtons fahren.
Das scheint mir die richtige Idee zu sein. Als ich anfing zu arbeiten und zu studieren, sah ich die Newtons seltener, aber sie sagten, ihre Tür stünde mir immer offen. Jetzt, an diesem Morgen, weiß ich, dass ich zu ihnen muss. Ich werde leise an ihr Küchenfenster klopfen, das in der Frühstücksecke, und Gerald, der immer früh aufsteht, wird an die Tür kommen und mich hereinbitten. Ich werde eine herrliche Stunde lang auf ihrer Couch ein Nickerchen machen, der braunen Eckcouch im Fernsehzimmer, und das typische Aroma des Hauses aus Hunden und Knoblauch und Lufterfrischer riechen. Ich werde mich sicher und geborgen fühlen, obwohl die übrigen Newtons, erst wenn ich schon wieder fort bin, erfahren werden, dass ich da war.
Ich fahre zu ihrem Haus, das nur eine Meile entfernt ist, verlasse die Unordnung, in der ich lebe – direkt am Highway und umgeben von Ladenketten –, und gelange auf die schattigen und gewundenen Straßen, wo die Rasenflächen weit sind, die Zäune makellos und die Briefkästen aussehen wie klitzekleine Scheunen. Als ich die Newtons kennenlernte, verbrachte ich zwei bis drei Tage die Woche bei ihnen, aß mit ihnen zu Abend und blieb manchmal das ganze Wochenende. Wir machten Ausflüge zu Spielen der Atlanta Braves, in den Zoo, gingen ins Kino. Sie waren eine viel beschäftigte Familie – Gerald saß im Vorstand dreier gemeinnütziger Organisationen und arbeitete unentwegt, Anne war in ihrer Kirche aktiv – und so bekam ich allmählich ein schlechtes Gewissen, weil sie sich so viel Zeit für mich nahmen. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich Allison half, einiges zu verstehen, was den Krieg und den Sudan und Afrika und sogar Alessandro anging, also hatten vielleicht beide Seiten etwas davon. Ich kannte sie gerade ein paar Monate, als wir ein Foto auf dem Rasen vor ihrem Haus machten, Allison sitzend im Gras, Anne, Gerald und ich stehend dahinter.
– Für die Weihnachtskarte, sagten sie.
Wie bitte? Ich sollte mit auf ihre Weihnachtskarte? Zehn Tage später schickten sie mir das Foto, das wir aufgenommen hatten, auf einer grünen Klappkarte, wir vier lächelnd in ihrem üppigen Garten. Darin stand in Druckschrift: Frohe Weihnachten und ein friedvolles Neues Jahr wünschen Gerald, Anne, Allison und Dominic (unser neuer Freund aus dem Sudan). Ich war sehr stolz auf die Karte und ich war stolz, dass sie mich so mit einbezogen.
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