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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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Augenentzündung, die mich nun schon seit Tagen quälte, konnte ich nur breite dunkle Schatten ausmachen, die von meinen Wimpern unterteilt wurden.
    Ab und an fuhren Lastwagen den Weg ab, sammelten die Allerschwächsten ein und brachten manchmal auch Proviant und Wasser. Trotz meiner zugeschwollenen Augen war ich kein Kandidat für die Lastwagen, denn meine Beine arbeiteten, und meine Füße waren gesund. Aber ich wäre so wahnsinnig gerne gefahren worden. Schon die Vorstellung, gefahren zu werden! Ich sah die Lastwagen an und stellte mir vor, wie schön es wäre, da drin zu sein, hoch oben, und davongetragen zu werden.
    – Halt!, schrie jemand. – Halt! Stopp! Wenn die Lastwagen wegfuhren, versuchten jedes Mal einige Jungen, auf die Ladefläche zu klettern, und jedes Mal hielt der Lastwagen wieder an und der Fahrer warf sie herunter, zurück auf den Schotter.
    Auf diese Weise wurde ein Junge von einem der Hilfsfahrzeuge überrollt. Als ich die Stelle erreichte, wo er getötet worden war, war seine Leiche bereits weg. Vielleicht hatte man sie von der Straße geschleift, doch der dunkle Blutfleck war ebenso klar umrissen wie die Silhouette der Berge am Horizont.
    Ich biege von der Piedmont Road auf die Roswell Road, die bis zu mir nach Hause führt. Dieser Gang durch das frühmorgendliche Atlanta ist recht angenehm. Im Osten sehe ich ein lila Lichtband, und ich weiß, dass es sich ausdehnen wird, je näher ich komme.
    Ich habe die beharrliche Angewohnheit, mir jedes Mal, wenn ich dieses Land eigentlich abschreiben möchte, zu vergegenwärtigen, was ich hier habe und in Afrika nicht hatte. Diese Angewohnheit steht mir im Weg, wenn ich die Schwierigkeiten, die das Leben hier mit sich bringt, aufzählen und beurteilen will. Natürlich ist es ein elender Ort, ein elender und herrlicher Ort, den ich innig liebe und von dem ich weit mehr gesehen habe, als ich mir je hätte träumen lassen. Seit fünf Jahren bewege ich mich hier frei und ungehindert. Ich bin neununddreißigmal in diesem Land geflogen, und ich bin schätzungsweise zwanzigtausend Meilen gefahren, um Freunde und Verwandte und Canyons und Wolkenkratzer zu sehen. Ich war in Kansas City, in Phoenix, in San Jose, San Francisco, San Diego, Boston, Gainesville. Ich habe nur sechzehn Stunden in Chicago verbracht und bin nicht einmal in die Innenstadt gekommen. Ich sollte an der Northwestern University einen Vortrag halten, verfuhr mich auf dem Weg vom Flughafen und sprach schließlich auf einem Stuhl stehend zu rund einem Dutzend Studenten, die schon dabei waren, den Saal zu verlassen. In Omaha sah ich mir einmal ein Baseballspiel an, und ein anderes Mal sah ich zu, wie der Schnee sich vorhangartig über die Stadt legte und in Minutenschnelle alles bedeckte. In Oakland begab ich mich unter die Erde und war fassungslos darüber, dass es so etwas wie eine U-Bahn gibt, sie kommt mir noch immer wie ein Ding der Unmöglichkeit vor, und ich werde nicht wieder damit fahren, bis ich genau weiß, dass sie wirklich real ist. Ich war siebenmal in Memphis, um meinen Onkel zu besuchen, den Bruder meines Vaters, und ich bin im Innern einer gigantischen grünen Glaspyramide herumspaziert. In New York City sah ich die Freiheitsstatue von einer Fähre aus, und ich stellte überrascht fest, dass die Frau geht. Ich hatte bestimmt schon hundertmal Bilder von ihr gesehen, aber mir war nie aufgefallen, dass sie gerade zu einem Schritt ansetzt. Es war verblüffend und viel schöner, als ich es für möglich gehalten hätte. Ich war in South Carolina, in Arkansas, New Orleans, Palm Beach, Richmond, Lincoln, Des Moines, Portland, in den meisten dieser Städte leben Lost Boys. Ich war auch in Seattle, um auf einem Kongress des Ärzteverbands des Staates Washington zu sprechen, das war 2003. Sie hatten mich engagiert, um vor ihren Mitgliedern über meine Erfahrungen zu berichten, und ich tat es, und während ich in Seattle war, brachte mich derselbe Freund, der sein Telefon damals an Tabitha weitergereicht hatte, zu ihr.
    Es ist seltsam, das zu sagen, aber ich habe Tabitha am meisten aus der Ferne geliebt. Das heißt, meine Liebe zu ihr wuchs immer dann, wenn ich sie aus einigem Abstand betrachten konnte. Vielleicht klingt das falsch. Ich liebte sie, wenn wir zusammen waren, in meinem Zimmer oder auf der Couch, unsere Beine ineinander verschlungen und ihre Hände in meinen. Aber die Momente, in denen ich sie auf der anderen Straßenseite sehen konnte oder wie sie auf mich zukam oder wie sie

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