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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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Ich klebte sie in meinem Zimmer an die Wand, über meinem Nachttisch. Anfänglich stellte ich sie in unser Wohnzimmer, doch einige sudanesische Freunde, die zu Besuch kamen, hatten neidisch reagiert. Es ist unhöflich, mit dieser Art Freundschaften zu prahlen.
    Die Erinnerung an die Karte weckt in mir die Vorfreude darauf, durch die halbrunde Eingangstür der Newtons zu gehen, aber als ich an ihrem Haus ankomme, erscheint mir der Plan auf einmal lächerlich. Was mache ich hier? Es ist 4.48 Uhr, und ich parke vor ihrem dunklen Haus. Ich halte Ausschau, ob irgendwo Licht brennt, aber ich sehe keines. So sind wir Flüchtlinge, nie kennen wir die Grenzen der Großherzigkeit unserer Gastgeber. Ich will um fast fünf Uhr morgens an ihre Tür klopfen. Habe ich den Verstand verloren?
    Ich fahre ein Stück die Straße hoch, damit sie mich nicht sehen, falls einer von ihnen aufwacht. Ich beschließe, einfach hier zu warten, bis ich zur Arbeit muss. Ich kann etwas früher dort ankommen, duschen, vielleicht im Klubladen ein neues Hemd und eine Hose kaufen. Auf Bekleidung bekomme ich dreißig Prozent Rabatt, und das habe ich auch früher in Anspruch genommen. Ich werde mich waschen und die Sachen kaufen und dann wieder vorzeigbar sein und niemandem erzählen, was passiert ist. Ich bin es satt, Hilfe zu brauchen. Ich brauche Hilfe in Atlanta, ich brauchte Hilfe in Äthiopien und in Kakuma, und ich bin es satt. Ich bin es satt, mir Familien anzuschauen, Familien zu besuchen, und zugleich Teil und doch nicht Teil dieser Familien zu sein.
    Einige Wochen nachdem ich mit Duluma gesprochen und mit Tabitha über Duluma gelacht hatte, war ich wieder bei Bobby Newmyer in Los Angeles. Er hatte ein Treffen von Lost Boys an der University of Judaism organisiert. Vierzehn Lost Boys aus den ganzen Vereinigten Staaten waren gekommen, um eine landesweite Organisation zu planen, eine Webseite, die über den Werdegang aller Mitglieder in der Diaspora berichten sollte, und vielleicht eine einheitliche Aktion oder Stellungnahme zu Darfur vorzubereiten. Wir nahmen gerade Platz, um die morgendliche Diskussion zu beginnen, als mein Telefon klingelte. Weil wir Lost Boys offenbar alle ein Problem mit unseren Handys haben – wir meinen stets, wir müssten jeden Anruf sofort annehmen, ganz gleich unter welchen Umständen –, gab es die Regel: keine Anrufe während der Sitzungen. Also nahm ich Tabithas Anruf nicht entgegen. In der ersten Pause hörte ich ihre Nachricht auf dem Flur ab. Sie war um zehn Uhr dreißig hinterlassen worden.
    »Achak, wo bist du?«, fragte sie. »Ruf mich sofort zurück.« Ich rief sie zurück und erreichte nur ihre Mailbox. Ich würde den ganzen Tag über beschäftigt sein, sagte ich ihr. Ich riefe sie an, sobald die Besprechung zu Ende sei. Sie rief noch einmal an, aber da hatte ich mein Handy abgestellt. Als ich es um vier Uhr wieder einschaltete, war Achor Achor der erste, der anrief.
    »Hast du schon was gehört?«, fragte er.
    »Worüber gehört?«
    Er schwieg einen langen Moment. »Ich rufe dich wieder an«, sagte er.
    Wenige Minuten später meldete er sich erneut.
    »Hast du irgendwas von Tabitha gehört?«, fragte er.
    Ich sagte nein, hätte ich nicht. Er legte wieder auf. Meine einzige Vermutung war, dass Tabitha versucht hatte, mich über Achor Achor zu erreichen, und dass sie ärgerlich geworden war, sich vielleicht sogar über meine Unerreichbarkeit, meine Gefühllosigkeit beschwert hatte. Derlei Dinge sagte sie immer, wenn sie vergeblich versucht hatte, mich zu erreichen.
    Das Telefon klingelte erneut, und es war Achor Achor.
    Er erzählte mir, was er wusste: dass Tabitha tot war, dass Duluma sie getötet hatte. Sie war in der Wohnung ihrer Freundin Veronica gewesen, zu der sie sich geflüchtet hatte, um vor Duluma sicher zu sein. Duluma hatte herausgefunden, wo sie war, hatte angerufen und gedroht, er würde zu ihnen kommen. Tabitha war trotzig, setzte sich über Veronicas Einwände hinweg und forderte ihn heraus, er solle doch kommen. Veronica wollte die Tür nicht öffnen, aber Tabitha hatte keine Angst. Mit Veronicas Baby auf dem Arm entriegelte sie das Sicherheitsschloss. »Ich werde schon fertig mit diesem erbärmlichen Mann«, erklärte sie Veronica und öffnete die Tür. Duluma kam mit einem Messer in der Hand hereingestürmt. Er stach Tabitha zwischen die Rippen, und das Baby flog durch die Luft. Während Veronica ihr Kind aufhob, warf Duluma Tabitha zu Boden. Veronica sah hilflos zu, wie Duluma

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