Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Nervosität und den schwachen Magen hinter meiner Schauspielerei verstecken konnte. Aber ich wusste genau, mit ihr als Geschichtslehrerin würde ich mich nicht konzentrieren können und meine Noten würden sich verschlechtern. All die Probleme, die mit ihrer Anwesenheit einhergingen, wurden durch einen Zug ihrer Persönlichkeit noch doppelt verstärkt. Irgendetwas an dem Fach Geschichte weckte die Provokateurin in ihr, und das machte die meisten der achtundfünfzig Jungen, die ihr zu Füßen saßen, völlig fertig.
Sie sprach nicht offen über Sex, aber irgendwie schaffte sie es immer, bei jeder historischen Figur, über die sie sprach, die sexuellen Gewohnheiten zu erwähnen, auch wenn das mit dem eigentlichen Thema rein gar nichts zu tun hatte.
– Dschingis Khan war ein sehr brutaler Diktator, so begann sie beispielsweise. – Zu seinen Feinden war er grausam, aber er liebte die Frauen. Er hatte einen starken Trieb, so hieß es. Angeblich soll er über zweihundert Frauen mit seinem Samen befruchtet haben, und häufig lag er in einer Nacht bei drei oder mehr Frauen. Er war auch dafür bekannt, im Bett gewisse Hilfsmittel benutzt zu haben …
Am ersten Tag fiel ein Junge in Ohnmacht. Wir waren absolut nicht darauf vorbereitet, über sexuelle Triebe zu sprechen, und schon gar nicht, wenn derartige Äußerungen aus dem Mund der göttlichen Gladys kamen. Warum tat sie das? Sie beherrschte uns alle, achtundfünfzig Jungen, sie kontrollierte uns vollkommen und manchmal gnadenlos. Die Diskussion über die sexuellen Gewohnheiten Dschingis Khans und seinesgleichen dauerte die ganze Stunde, und hinterher waren wir total erschöpft.
Unsere verwirrten und sehnsüchtigen Mienen schienen sie anzuspornen, in jede Unterrichtsstunde irgendeine sexuelle Bemerkung mit einfließen zu lassen. Wir konnten uns darauf verlassen und kleideten uns entsprechend. Der Junge, der in Ohnmacht gefallen war, brachte Papierknäuel mit zum Unterricht, und die stopfte er sich in die Ohren, wenn sie wieder einmal auf dem Thema herumritt, denn seine Eltern waren im Lager, und er war sicher, sie würden es merken, wenn er mit solcherlei Kenntnissen im Kopf nach Hause käme.
Die wenigen Mädchen in der Klasse reagierten auf breiter Front verärgert auf Miss Gladys und die Jungen, die so vernarrt in sie waren. Aber es gab ein Mädchen, jünger als die anderen, das offenbar Vergnügen an Miss Gladys fand und über ihre Witze lachte, selbst wenn wir diese nicht als Witze erkannten. Das Mädchen war Tabitha Duany Aker. Ich hatte sie ein Schuljahr und einen Sommer lang nicht gesehen, seit wir zusammen Hauswirtschaft gehabt hatten, aber ich freute mich sehr, sie wiederzusehen, und darüber, dass sie die Einzige war, die lachte, als Miss Gladys einen Witz über Idi Amin in der Sauna machte. Der Witz wurde mit Schweigen quittiert, nur in der äußeren Reihe prustete jemand los. Tabitha hielt sich den Mund zu und wechselte einen langen Blick voll gegenseitiger Bewunderung mit Miss Gladys, und von jenem Tag an begann ich, mich für sie zu interessieren, und versuchte, sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit auch außerhalb des Unterrichts zu sehen. In vielerlei Hinsicht erinnerte sie mich an Maria – mit ihrem Witz, ihrer Schlagfertigkeit, ihrem herzförmigen Gesicht –, aber sie war mädchenhafter als Maria. Sie war von einer wilden Weiblichkeit beherrscht, die sie zähmte und verfeinerte, so glaube ich jedenfalls, indem sie jede Bewegung und Geste von Miss Gladys genau beobachtete.
Derweil verbrachten die übrigen Jungen, die unsere neue Geschichtslehrerin gerade erst kennengelernt hatten, jede Menge Zeit damit, allein oder gemeinsam über sie und ihren Unterrichtsstoff nachzudenken. Miss Gladys wurde die bekannteste und beliebteste Lehrerin in Kakuma, und durch sie wuchs auch der Bekanntheitsgrad von uns Dominics. In ihrem Geschichtsunterricht waren vier Dominics, und weil sie so vertraut mit uns umging, durchbohrten die anderen Jungen uns förmlich mit Blicken, da wir offensichtlich direkten Zugang zu Miss Gladys Herz hatten. Wann immer sie erwähnt wurde, wurden auch die vier Dominics aus der Theatergruppe erwähnt. Unsere richtigen Namen wurden von Dominic verdrängt, und unsere Berühmtheit einte uns. Wenn wir zusammen Basketball spielten, hieß unser Team Die Dominics. Wenn wir vorbeigingen, sagten die Leute: »Da kommen die Dominics.« Und die Zahl der Jungen, die auf einmal Theater spielen wollten – und in unserer Klasse Geschichte lernen,
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