Weit Gegangen: Roman (German Edition)
ein Bild mühsam unterdrückter Wut.
– Wir wurden zum Bergkamm geführt und mussten uns in einer Reihe aufstellen. Da waren zwanzig Soldaten mit Maschinengewehren. Ein Häuptling versuchte, den Berg hinunterzulaufen. Er wurde sofort erschossen. Dann begannen sie, die anderen Häuptlinge zu erschießen, in den Hinterkopf. Ein paar Männer versuchten zu kämpfen, mit den Füßen, und sie wurden in die Brust und ins Gesicht und sonst wohin geschossen. Es war das Schlimmste, was ich je gesehen habe, wie diese Männer um ihr Leben kämpften, wie sie um sich traten und mit gefesselten Händen umhersprangen. So sollte niemand sterben. Es war ein schreckliches Grauen, das alles.
– Dauerten die Hinrichtungen lange?, fragte der Kommandant.
– Nein, nein. Es war sehr schnell vorüber. In ein paar Minuten war es vorüber.
– Aber dich haben sie nicht erschossen. Warum nicht?
Der Häuptling schnaubte. – Natürlich wollten sie mich erschießen! Sie haben auf mich geschossen wie auf alle anderen! Ich war ein Häuptling, ich musste sterben! Sie haben mir in den Hinterkopf geschossen, ja, aber die Kugel ging glatt durch und kam am Kiefer wieder raus.
Einige Jungen im Raum glaubten ihm nicht, und der Häuptling merkte das.
– Ihr glaubt mir nicht? Seht euch das an.
Er zeigte auf eine gezackte Narbe an seinem Unterkiefer.
– Da ist die Kugel aus mir raus. Und hier ist die Kugel.
Er holte ein rundliches und verrostetes Ding aus der Tasche, das nicht so aussah, als hätte es den Schädel eines Mannes durchschlagen können.
– Es tat nicht weh. Ich dachte, ich sei tot, also spürte ich wenig Schmerz. Ich lag auf der Erde und wunderte mich über die seltsamen Dinge, die ich sah, und über meine Gedanken. Ich war tot, aber ich konnte noch immer sehen. Ich sah die Leiche eines anderen Mannes, eines Häuptlings, und ich konnte die Stiefel der Soldaten hören. Ich konnte hören, wie der Lastwagen wieder ansprang. Und die ganze Zeit fragte ich mich, wieso ich das alles hörte. Ich hatte nicht erwartet, nach einem solchen Tod noch sehen und hören zu können.
– Ich dachte, dass ich vielleicht doch nicht tot war. Dass ich noch starb. Also lag ich da, unfähig, mich zu bewegen, und wartete auf den Tod. Ich dachte an meine Familie, an die Menschen in meinem Dorf. Da lag ihr Häuptling, zusammen mit siebenundsechzig anderen, alle tot. Alles vertrauensselige Narren. Ich dachte über die Schande nach, dass all diese Häuptlinge an einem Ort gestorben waren, getötet von diesen jungen Regierungssoldaten, die nichts vom Leben wussten. Ich verfluchte unsere Torheit. Wir waren vertrauensselig und dumm, wie unsere Vorfahren es fünfzig Jahre zuvor gewesen waren. Das war unser Ende, dachte ich. Wenn es so leicht war, alle Häuptlinge zu töten, dann würde es wahrhaftig eine Kleinigkeit sein, unsere Kinder zu töten.
– Erst nach einer Weile wurde mir klar, dass ich noch lebte. Am Morgen kam das Licht, und ich konnte noch immer sehen und denken, und das ließ mich glauben, dass ich vielleicht doch noch am Leben war. Ich versuchte, die Arme zu bewegen. Zu meinem Erstaunen bewegten sie sich. Mir kam der Gedanke, es würde vielleicht bald eine andere Gruppe von Regierungssoldaten kommen, um uns zu beerdigen, den Beweis des Massakers zu beseitigen, also stand ich auf und ging davon. Ich machte mich einfach auf den Weg zu meinem Dorf. Nach drei Tagen, in denen ich nur sehr wenigen Menschen begegnete, erreichte ich das erste Dorf, wo mich der Stellvertreter des Häuptlings mit großer Begeisterung begrüßte. Er wollte wissen, wie die Konferenz gelaufen war. Ich musste ihm sagen, dass sie nicht gut gelaufen war.
– Er und sein Clan pflegten mich und brachten mich zu einem Arzt, der das Loch in meinem Gesicht nähte. Nach einer Woche ging ich begleitet von dem Stellvertreter weiter, zurück in mein Dorf, wo sie schon gehört hatten, was passiert war. Ich war dort nicht sicher, also versteckten sie mich, bis ich eine Woche später fliehen konnte. Irgendwann traf ich andere Flüchtlinge, die nach Kakuma unterwegs waren. Es wurde beschlossen, dass ich nur dort sicher sei.
– Ihr Jungen, wir können niemals eins werden mit dem Norden, mit Khartoum. Wir können ihnen niemals vertrauen. Bis es einen unabhängigen Süden gibt, einen Neuen Sudan, werden wir keinen Frieden haben. Das dürfen wir nie vergessen. Für die sind wir Sklaven, und selbst wenn wir nicht in ihren Häusern und auf ihren Farmen arbeiten, werden sie uns immer für
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