Weit Gegangen: Roman (German Edition)
ganz gleich, in welchem Bereich des Camps sie lebten –, wuchs unvermindert an. Miss Gladys erlaubte niemandem die Teilnahme, weil wir keine weiteren Jungen brauchten.
Wir hatten schon zu viele Jungen, und das wurde allmählich zum Problem, denn da nur zwei Mädchen in unserer Truppe waren, mussten die meisten Frauen in unseren Stücken von Männern gespielt werden. Einer der Dominics, dessen richtiger Name Anthony Chuut Guot war, hatte sich regelrecht auf Frauenrollen spezialisiert. Er schlüpfte unerschrocken in Frauensachen, und er hatte keine Angst davor, wie eine Frau zu gehen und zu sprechen. Dieser Mut trug ihm den Spitznamen Madame Zero ein, nach einem Comic-Heft-Spion, der gern Frauenkleidung trug. Ihm gefiel der Name, zumindest anfänglich. Erst als sich der Spitzname auch außerhalb der Dominics herumsprach, verging ihm das Lachen, und schließlich bestanden er und Miss Gladys darauf, unsere Truppe wenigstens um eine weitere junge Frau zu bereichern.
So kam es, dass Tabitha an einem wunderbaren Nachmittag Mitglied der Napata-Theatergruppe wurde.
Tabitha war mit Abuk befreundet, Gops ältester Tochter, daher hatte ich sie auch schon außerhalb des Hauswirtschafts-und Geschichtsunterrichts beobachten können und wusste gewisse Dinge über sie. Zunächst einmal wusste ich, dass ihr erlaubt worden war, in die Theatergruppe zu gehen, weil ihre Mutter selbst Schauspielerin gewesen war, eine fortschrittliche Frau, die wollte, dass Tabitha alle Chancen nutzte, die das Camp zu bieten hatte. Ich wusste außerdem, dass sie ein Gesicht hatte, dessen Vollkommenheit beängstigend war. Als ich Maria kennenlernte, hegte ich anfangs Gefühle für sie, aber wenn ich sie ansah, mit ihr sprach, fiel mir das in keiner Weise schwer. Sie war eher wie eine Schwester für mich, und wenn ich vor ihr stand, spürte ich, dass sie ein junger Mensch war wie ich, dass wir beide Flüchtlinge waren, dass nichts an ihr mich einschüchterte.
Bei Tabitha war das anders. Nicht allein ich wusste, dass Tabithas Gesicht unvergleichlich ebenmäßig war. Ihre Haut war ohne Makel, ihre Wimpern außergewöhnlich lang. Ich wusste das alles aus der Ferne, und nachdem ich sie aus der Nähe betrachtet hatte, wusste ich, dass sie langsam und bedächtig ging, wobei sich jeder Körperteil völlig mühelos bewegte. Aus einiger Distanz betrachtet sah es aus, als schwebte sie, weil ihr Kopf nicht wippte und die Bewegung der Beine unter den Röcken kaum wahrnehmbar war. Ich wusste das, und ich wusste auch, dass sie ihre Freundinnen am Unterarm berührte, wenn sie mit ihnen sprach. Das machte sie oft, und wenn sie lachte, umfasste sie den Unterarm und tätschelte ihn dann zweimal.
Ich wusste das alles, und ich wusste, dass ich eine Zeit lang in ihrer Gegenwart furchtbar unbeholfen und geistlos wurde. Sie war einige Jahre jünger als ich, und ich war viel größer als sie, und doch fühlte ich mich in ihrer Nähe wie ein Kind, ein Kind, das im Schatten ihres Rockes mit Puppen spielen sollte. Mal wollte ich ihr nah sein, sie immer vor Augen haben, und einen Moment später wollte ich in einer Welt existieren, in der es sie nicht gab. Das schien mir die einzige Möglichkeit zu sein, mich je wieder konzentrieren zu können.
Die ersten Male, die sie an den Treffen der Theatergruppe teilnahm, war sie wie alle anderen auch ganz von den Späßen des lustigen Dominic eingenommen. Sie lachte über alles, was er sagte, legte ihm mehrfach eine Hand auf den Unterarm, drückte ihn sogar ein-oder zweimal. Ich wusste, dass Dominics Zuneigung auf jemand anderen gerichtet war, aber dennoch, es war nicht leicht, das mit anzusehen. Sollte sie je die Hand eines anderen jungen Mannes ergreifen, würde ich das bestimmt nicht überleben. Mein einziger Trost war das Wissen, dass ich jede Woche auf engstem Raum mit ihr zusammen wäre, während wir unsere Stücke schrieben und probten – ob sie mich nun jemals direkt ansah und ansprach oder nicht. Bisher hatte sie nichts dergleichen getan.
Die Theatergruppe hatte Erfolg, was teilweise den Anstrengungen Tabithas, der Dominics und unserer libidinösen Leiterin zuzuschreiben war, teilweise aber auch der großzügigen finanziellen Förderung, in deren Genuss wir kamen. Unser Programm für Jugend und Kultur wurde von einer Organisation direkt unterstützt, die sich Wakachiai Project nannte, eine humanitäre Hilfsorganisation mit Sitz in Tokio. Ihr Ziel war es, die Jugendlichen von Kakuma in Sport, Theater, Erster Hilfe und
Weitere Kostenlose Bücher