Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Kenianern, den Europäern, den Briten und Amerikanern und vor allem mit den Sudanesen, die ihn durchweg anhimmelten, so schien es. Er hatte keine sichtbaren körperlichen Entstellungen. Eines Abends beim Essen sprach ich mit Gops Familie über Noriyaki. Ich hatte den Laptop mit nach Hause gebracht, und Gop bestand darauf, ihn während des gemeinsamen Abendessens im Blickfeld zu haben. Es war wirklich seltsam, ein solches Objekt in unserer Unterkunft zu sehen. Es wirkte wie ein massiver Goldbarren auf einem Misthaufen.
– Er könnte in Japan irgendein Verbrechen begangen haben, spekulierte Ayen.
– In Japan gibt es viel Konkurrenz, sinnierte Gop. – Vielleicht war er das Leben dort satt.
Aber sie wollten es nicht verderben, und ich wollte es nicht verderben. Es war seltsam: Für erwachsene Sudanesen gab es beim UNHCR und den NGOs nur wenige Jobs, aber sie brauchten jemanden, der die Bedürfnisse der Jugendlichen verstand, und deshalb erhielt ich eines der besten NGO-Gehälter für Flüchtlinge in Kakuma. Angeblich war die Finanzierung für das Projekt zeitlich begrenzt, aber Noriyaki sprach ständig über eine Verlängerung.
– Die japanische Regierung hat genug Geld, sagte er.
Er sagte aber auch, er und ich müssten den bestehenden Etat auf jeden Fall gut nutzen, Flüchtlinge in die Planung mit einbeziehen und jeden Dollar zweimal umdrehen.
Ich fragte, warum er überhaupt nach Kenia gekommen sei. – Warum die Sudanesen?, fragte ich.
– Als ich kleiner war, mussten wir in der Schule ein Referat über ein Land in Afrika halten. Mein Lehrer interessierte sich sehr für den Kontinent, weshalb er das Thema Afrika wahrscheinlich viel zu ausführlich behandelte. Ich war nicht gerade der Lieblingsschüler dieses Lehrers, muss ich dazu sagen. Er ging also durch die Klasse und fragte jeden, über welches Land er schreiben wolle, und mich rief er als Letzten auf. Inzwischen war nur noch der Sudan übrig.
Das hätte ich mir denken können, aber trotzdem tat es mir in der Seele weh. In den Jahren danach dachte ich oft darüber nach, dass keines dieser japanischen Schulkinder den Sudan nehmen wollte.
– Es gab zugegebenermaßen nicht viele Informationen über dein Land. Es war ein sehr kurzes Referat, sagte er.
Er lachte, und ich brachte ein Lächeln zustande. Das war offenbar eine seiner Absichten. Ich bin sicher, dass er jeden Tag mit dem Vorsatz ins Büro kam, mich zum Lachen zu bringen, ganz gleich bei welchem Thema. Er erzählte von seiner Familie und von seiner Freundin – seiner Verlobten. Er vermisste Wakana mit einer Sehnsucht, die man greifen konnte. Es kam oft vor, dass er, wenn ich zur Arbeit kam, unter seinem Schreibtisch saß und telefonierte. Ich weiß nicht, warum er dazu unter den Schreibtisch kroch, aber meistens tat er das. Wenn er fertig war, fand ich oft Notizen auf dem Boden, als hätte er sich Listen mit Dingen gemacht, die er ihr sagen wollte. Wenn er nach ihr schmachtete, hörte ich ihm zu, bis ich nicht mehr zuhören konnte.
– Deine Freundin?, sagte ich dann. – Du jammerst, weil du deine Freundin vermisst? Ich habe nicht mal eine Familie!
Dann lachte er und sagte: – Stimmt, aber du bist daran gewöhnt.
Wir fanden das sehr lustig, und es wurde zu einem Running Gag zwischen uns: – Ja, aber du bist daran gewöhnt. Und obwohl ich lachte, fing ich an darüber nachzudenken, ob das stimmte. Es konnte schon sein, dass er seine Verlobte mehr vermisste, als ich meine Familie vermisste, weil er sicher war, dass Wakana lebte. Meine Gefühle für meine Familie waren distanzierter und vager, denn ich konnte sie mir nicht vorstellen, und ich wusste nicht, ob sie tot waren oder noch lebten, im Sudan oder anderswo. Noriyaki hingegen hatte seine Mutter und seinen Vater und zwei Geschwister, und er wusste jeden Tag, wo sie waren.
– Meine Familie ist jetzt deine Familie, sagte er eines Tages.
Sie wüssten alles über mich, sagte er, und wollten mich sehr gern kennenlernen. Er stellte ein weiteres Bild auf seinen Schreibtisch, von seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester, und ich sollte mir vorstellen, sie seien meine Familie. Das Seltsame daran war, dass sein Plan funktionierte. Allmählich wurden seine Verwandten für mich zu Menschen, die über mich wachten und Gutes von mir erwarteten. Ich starrte das Bild seiner Eltern an – beide in Schwarz, die Hände vor dem Körper gefaltet, vor einem riesigen Denkmal stehend, das einen Soldaten beim Angriff darstellte – und glaubte, dass wir
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