Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Sicherheit nicht so liberale Ansichten und Ideen gehabt, aber als Jugenderzieher kannte ich mich bald mit der Sprache der Gesundheitsversorgung und des menschlichen Körpers, der sexuell übertragenen Krankheiten und der Vorbeugungsmaßnahmen recht gut aus. Häufig sprach ich zu locker mit jungen Frauen und verwechselte die Sprache des Aufklärungsunterrichts mit der Sprache der Liebe. Einmal ruinierte ich meine Chancen bei einer jungen Frau namens Frances, als ich sie fragte, ob sie sich ihrem Alter gemäß entwickelte. Wortwörtlich sagte ich:
– Hallo, Frances, ich war gerade im Aufklärungsunterricht, und ich frage mich, ob deine weiblichen Organe sich wohl richtig entwickeln.
Solche Dinge kommen einem als junger Mensch schon mal über die Lippen, und wenn so etwas passiert, dann wird man das nie wieder los. Von da an hatten sie und ihre Freundinnen eine sehr schlechte Meinung von mir, und meine Frage hat mich noch viele Jahre später verfolgt.
Ich lernte viele wichtige Lektionen, und die erste davon war, dass unverblümte Äußerungen auf Englisch akzeptabler schienen als auf Dinka. Da wir das Englische nur mangelhaft beherrschten, waren der Ton und die genaue Bedeutung der Sätze uns nicht ganz klar und schwer zu fassen. Ich hätte auf Dinka niemals »ich liebe dich« zu einem Mädchen sagen können, weil es genau gewusst hätte, was das bedeutete, auf Englisch jedoch konnten die gleichen Worte charmant klingen. Daher setzte ich oft Englisch ein, wenn ich besonders charmant sein wollte. Aber das klappte auch nicht immer.
Einen Großteil meiner Zeit verbrachte ich damit, meinen Umgang mit Mädchen zu verfeinern, und als ich so weit war, Tabithas Interesse an mir zu erkunden, ging ich alles andere als dreist vor. Ich wusste mittlerweile, dass Tabitha eine Ausnahmeerscheinung war, ein Mädchen, das noch immer zur Schule gehen durfte, deren Mutter in Kakuma war und so fortschrittlich dachte, dass sie ihrer Tochter eine ganze Reihe von Möglichkeiten gewährte, im Hinblick auf ihre Ausbildung und sogar im Hinblick auf Freundschaften mit Jungen wie mir.
Es gab einen bestimmten Tag im Jahr, den sogenannten Flüchtlingstag, und ich bin ziemlich sicher, dass die Hälfte aller Beziehungen unter den Jugendlichen in Kakuma an diesem Tag begann oder endete. An dem Tag, es war immer der 20. Juni, feierten alle Flüchtlinge Kakumas vom Morgen bis zum Abend, die Aufsicht durch die Erwachsenen war weniger streng, und die Nationalitäten und Kasten vermischten sich ungehemmter als an jedem anderen Tag des Jahres. Sie feierten nicht etwa die Tatsache, dass sie Flüchtlinge waren oder im Nordwesten Kenias lebten, sondern einfach nur ihre Existenz und das Überleben ihrer Kultur, ganz gleich, wie angeschlagen sie auch war. Es gab Kunstausstellungen, Aufführungen von Volkstänzen, es gab Essen und Musik und, was die Sudanesen anging, viele Reden.
Das war meine Chance, Tabitha anzusprechen, und ich verfolgte sie den ganzen Tag. Während sie sich einen traditionellen burundischen Tanz anschaute, schaute ich sie an. Als sie kongolesisches Essen probierte, beobachtete ich sie hinter einem Stand mit somalischem Kunsthandwerk versteckt. Und als der Tag zu Ende ging und es nur noch wenige Minuten waren, bis alle Mädchen nach Hause gehen mussten, marschierte ich mit einem Selbstvertrauen auf sie zu, das mich selbst erstaunte. Ich war vier Jahre älter als sie, sagte ich mir. Sie ist ein junger Mensch, jemand, in dessen Anwesenheit du dich nicht wie ein Kind fühlen solltest. Und so ging ich mit ernster Miene zu ihr, und als ich hinter ihr stand – sie hatte mir den Rücken zugewandt, was meine Annäherung sehr erleichterte –, tippte ich ihr auf die Schulter. Sie wandte sich zu mir um, sehr überrascht. Sie blickte links und rechts an mir vorbei und schien verblüfft, dass ich allein war.
– Tabitha, ich wollte schon lange mit dir über etwas reden, sagte ich, – aber es hat sich irgendwie nie ergeben. Ich wusste nicht recht, wie du auf das, was ich dir vorschlagen wollte, reagieren würdest.
Sie starrte zu mir hoch. Sie war damals nicht sehr groß. Ihr Kopf reichte mir kaum bis zum Kinn.
– Wovon redest du?, fragte sie.
Es gibt kein einsameres Gefühl, als wenn ein Antrag, den man eingeübt hat, mir nichts, dir nichts abgelehnt wird. Aber beflügelt vom Adrenalin und purem Starrsinn redete ich weiter.
– Ich mag dich und möchte mich gerne mit dir verabreden.
So sagte man das damals, aber das hieß nicht, dass
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