Weit Gegangen: Roman (German Edition)
lassen, verhielten sich fürsorglich und übereifrig. Die ganze Atmosphäre gefiel mir nicht.
– Das erfährst du schon noch, sagte Gop. – Lasst uns zuerst essen.
Ich hatte noch immer kein Wort mit Miss Gladys gewechselt, die von den älteren Frauen im Haus belagert wurde. Und Deborah Agok, unser Gast, würdigte mich keines Blickes. Sie redete die ganze Zeit mit meinen Schwestern und kümmerte sich um das Mädchen, das jetzt in ihrem Schoß saß und das, wie ich erfuhr, ihre Tochter Nyadi war. Sie war ein mageres Mädchen in einem blassrosa Kleid, und ihre Augen wirkten viel zu groß für ihr Gesicht.
Das Abendessen wurde unerträglich langsam verspeist. Ich wusste, dass der Zweck dieses Essens und des Besuchs von Deborah Agok erst nach dem Essen offenbart werden würde, wenn die Erwachsenen Araki tranken, einen aus Datteln hergestellten Wein. Das alles, der Hang zum Dramatischen, ist unter Dinka verbreitet, doch an dem Abend fand ich ihn völlig überzogen.
Endlich war das Essen verspeist und der Wein getrunken, und Gop erhob sich. Er blickte zu Deborah Agok hinunter, die wie wir Übrigen auf dem Boden saß, und verlangte, dass sie den einzigen richtigen Stuhl des Hauses bekam. Miss Agok lehnte ab, doch er bestand darauf. Ein älterer Nachbar wurde von dem Stuhl zu der Stelle auf dem Boden geführt, die zuvor von Miss Agok eingenommen worden war, und erst dann ergriff Gop das Wort.
– Die meisten von euch kennen Deborah Agok nicht, aber sie ist eine Freundin unserer Familie. Sie ist eine hoch geachtete Hebamme, die sowohl die sudanesischen als auch die moderneren Geburtsmethoden gelernt hat. Bei ihrer Arbeit im Krankenhaus von Kakuma hat sie Miss Gladys kennengelernt, von der uns Achak so viel erzählt hat, voller Dankbarkeit für ihre … Unterweisungen.
Alle lachten, und mein Gesicht glühte. Miss Gladys strahlte mehr denn je. Es war unübersehbar, wie sehr sie diese Art von Aufmerksamkeit genoss.
– Kürzlich wurde Miss Agok vom International Rescue Committee in den Südsudan geschickt, um den Hebammen in den Dörfern neue Geburtsmethoden beizubringen. Und wie es der Zufall wollte, war eines der Dörfer, die sie besuchte, Marial Bai.
Alle Blicke richteten sich auf mich. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Meine Kehle schnürte sich zu, ich bekam keine Luft mehr. Das war es also, das war der Grund für die ganze Heimlichtuerei, das besondere Gericht aus meiner Heimat. Doch die Vorstellung, auf diese Weise Nachrichten von zu Hause zu erhalten, kam mir sofort irgendwie falsch vor. Ich wollte nicht vor den Augen eines solchen Publikums etwas über meine Familie erfahren. Deborah würde der erste Mensch sein, der mir in all den Jahren in Kakuma präzise und aktuelle Informationen aus Marial Bai brachte, und in meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Hatte der Fluss noch denselben Lauf wie früher? Waren die fetten Weiden und die Bäume der Region von den Arabern verbrannt worden? Wusste sie irgendetwas über meine Familie? Aber die Antworten darauf in einem solchen Rahmen zu hören, das war unerträglich.
Ich schaute zum Ausgang hinüber. Um zur Tür zu gelangen, würde ich über zwölf Personen hinwegsteigen müssen. Die Flucht wäre zu aufwändig, würde eine ungehörige Szene verursachen, die meiner Adoptivfamilie gegenüber respektlos gewesen wäre. Ich blickte Gop durchbohrend an, wollte ihm vermitteln, wie sehr mir dieser Überfall missfiel. Auch wenn die Atmosphäre zuvor heiter gewesen war, so war es durchaus möglich, dass Miss Agok tragische Neuigkeiten über meine leibliche Familie mitbrachte, und Gop hatte alle, die ich kannte, zusammengerufen, damit sie mich wieder aufrichten konnten, nachdem die Nachrichten mich am Boden zerstört hatten.
Nun ergriff Deborah Agok das Wort. Sie war eine große muskulöse Frau, deren Gesicht nichts über ihr Alter verriet. Sie hätte eine junge Frau oder eine Großmutter sein können, so widersprüchlich waren die Signale, die von der straffen Haut und den leuchtenden Augen mit den haarfeinen Fältchen drum herum ausgingen. Sie blieb auf dem Stuhl sitzen, die Hände im Schoß, und dankte Gop und Ayen für ihre Gastfreundschaft und Freundlichkeit. Ihre Stimme klang tief und heiser, man hätte meinen können, dass sie drei Leben gelebt hatte, ohne sich je auszuruhen.
– Meine Freunde, ich habe den Bahr al-Ghazal bereist, ich war in Nyamlell, Malual Kon, Marial Bai und den benachbarten Dörfern. Ich überbringe euch die herzlichsten Grüße der
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