Weit Gegangen: Roman (German Edition)
durchaus akzeptabel, wenn man sich unter dem Vorwand, dass die Mädchen uns anfeuerten, nach einem gewonnenen Punkt freudig umarmte.
An dem Tag spielten fünf Dominics Volleyball, und vier von uns hatten ihren Freundinnen gesagt, wenn sie kämen, um uns zu unterstützen, würden wir Gelegenheit haben, einander zwischen den Spielen oder nach spektakulären Punktgewinnen zu umarmen. Und so kam es, dass ich Tabitha zum ersten Mal in den Armen hielt. Für sie war dieses Anfeuern und Umarmen neu, aber sie war auf Anhieb begeistert und machte ihre Sache sehr gut. Als ich das erste Mal einen Schmetterball vorbei am Gesicht eines überheblichen Somalis übers Netz brachte, jubelte Tabitha, als würde sie gleich platzen, kam auf mich zugelaufen, hüpfte und umarmte mich überschwänglich. Niemand achtete darauf, doch Tabitha und ich genossen diese Augenblicke des Hüpfens und Umarmens, als seien es unsere Flitterwochen.
Als sich herumsprach, welche Wonnen man als Sportler ernten konnte, änderten die in Liebesdingen weniger erfolgreichen Jungen ihre Prioritäten. »Ich muss irgendeinen Sport lernen!«, sagten sie und versuchten es. Eine Zeit lang stieg die Zahl der Anmeldungen für alle möglichen Sportarten im Camp dramatisch an. Natürlich wurde dem Anfeuern und Umarmen schon bald ein Riegel vorgeschoben, als das Verhältnis zwischen sportlichem Einsatz und Umarmungen fast 1 : 1 entsprach. Aber es war sehr gut, unbeschreiblich gut, solange es währte.
– Erzähl schon!
Noriyakis Hunger nach Details war unstillbar.
– Erzähl, erzähl, erzähl!
Das wunderte mich, da ich ihn nie nach den körperlichen Aspekten seiner Beziehung zu Wakana – mit der er sich vor Kurzem verlobt hatte – gefragt hatte, er hingegen keinerlei Bedenken hatte, sich von mir jede Begegnung mit Tabitha schildern zu lassen. Ich tat ihm den Gefallen, bis zu einer gewissen Grenze. Es gab eine Zeitspanne von mehreren Wochen, in der ich mir Sorgen um die Jugend in Kakuma machte, weil die beiden Mitarbeiter des Wakachiai Project kaum etwas anderes taten, als meine Treffen mit Tabitha zu erörtern. Zum Glück fragte er mich nicht nach Gerüchen und anderen Sinneseindrücken.
Aber sie waren umwerfend. Nach rund drei Monaten hatten Tabitha und ich den Mut aufgebracht, uns gegenseitig zu Hause zu besuchen, wenn mal niemand da war, was selten genug vorkam, da sie mit fünf Personen zusammenlebte und ich mit zehn. Doch einmal die Woche konnte es vorkommen, dass wir allein in einem Zimmer waren und Händchen hielten oder gemeinsam auf einem Bett saßen, Oberschenkel an Oberschenkel, mehr nicht.
– Aber das wird sich auf der Theatergruppenfahrt ändern, was?, drängte Noriyaki.
– Ich hoffe, sagte ich.
Hoffte ich es wirklich? Ich war unsicher. Wünschte ich mir diese unbeaufsichtigte Zeit allein mit Tabitha? Der Gedanke daran machte mir Angst. Ich fragte mich jetzt schon, ob wir nicht zu oft allein zusammen waren, wenn auch in der Öffentlichkeit. Ihre Berührungen waren wirkungsvoller, als ihr bewusst war. Aber vielleicht war es ihr sehr wohl bewusst und sie war einfach nur leichtsinnig mit ihren Berührungen. Sie versetzten alles an mir in Aufruhr, und vielleicht fand Tabitha diese Macht amüsant und berauschend.
Aber wir würden nach Nairobi fahren, und eine solche Gelegenheit konnte und würde ich mir nicht entgehen lassen. Der Computerlehrgang, den Noriyaki nahegelegt hatte, war wegen der vielen Arbeit im Camp und der erforderlichen Genehmigungen noch nicht möglich geworden. Ich hatte noch nie eine Stadt gesehen, und da ich seit fünf Jahren nicht aus Kakuma rausgekommen war, hatte ich nicht das Gefühl, wirklich in Kenia zu sein. Kakuma war in gewisser Weise ein eigenes Land, eine Art Vakuum. Bei vielen von uns in Kakuma war der Wunsch, in den Sudan zurückzukehren, von einem praktikableren Plan verdrängt worden: nach Nairobi zu gehen, dort zu leben und zu arbeiten, ein neues Leben zu beginnen und Bürger Kenias zu werden. Ich kann nicht sagen, dass ich kurz davor war, dies in die Tat umzusetzen, aber ich hatte bessere Aussichten darauf als die meisten.
Unsere Theatertruppe hatte ein Stück mit dem Titel Die Stimmen einstudiert, und wir hatten es viele Wochen lang in Kakuma gespielt. Ein Theaterautor aus Nairobi, der seinen im Camp beschäftigten Vetter besuchte, sah sich das Stück an und lud uns sofort ein, es in der Hauptstadt im Rahmen eines Theaterwettbewerbs zu spielen, an dem die besten Amateurtheatergruppen des Landes teilnahmen. Wir
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