Weit Gegangen: Roman (German Edition)
da Tabithas herzförmiges, ebenmäßiges Gesicht im Fenster, das mich gar nicht beachtete. Sie saß neben einem anderen sudanesischen Mädchen, und als sie schließlich kurz zu mir herübersah, ließ sie sich nicht einmal anmerken, dass sie mich kannte, und plauderte weiter. Das war so abgemacht, sollte ich erwähnen. Wir hatten beschlossen, unsere Gefühle nach außen zu verbergen, obwohl einige im Bus wussten, was wir vorhatten. Ich spielte meine Rolle, stieg ein und setzte mich zu dem lustigen Dominic, weil ich wusste, dass er mir die Zeit während der Fahrt vertreiben würde, die man uns als sehr lang und anstrengend beschrieben hatte.
– He, Madame Zero, kaufst du dir in Nairobi ein paar neue Kleider?, fragte er.
Alle lachten, und Anthony lächelte ein bemüht duldsames Lächeln.
Es ist schwer zu vermitteln, wie berauschend es war, nach sieben Jahren im Lager auf dem Weg nach Nairobi zu sein. Es ist unmöglich zu beschreiben. Den meisten in der Gruppe ging es schlechter als mir. Ich lebte immerhin mit Gop zusammen und hatte einen bezahlten Job bei einer NGO, aber die meisten Mitglieder der Theatergruppe – insgesamt einundzwanzig, alle Sudanesen oder Somalis, alle zwischen zwölf und achtzehn – hatten nichts. Außer Tabitha gab es acht Mädchen, die meisten von ihnen Sudanesinnen, und das machte die Fahrt für die übrigen Dominics besonders unterhaltsam und keineswegs anstrengend. Wir fuhren in einem der blauen Busse für UN-Personal, die Fenster waren geöffnet, und während der zweitägigen Fahrt sorgten ein kühler Wind und gemeinsames Singen für Hochstimmung.
Die Landschaft war faszinierend, die Berge und Täler, der Nebel und die Sonne. Wir kamen durch den Kapenguria-Distrikt von Kenia, der überwiegend gebirgig und kühl ist. Wir sahen Vögel mit buntem Gefieder, wir sahen Hyänen und Gazellen, Elefanten und Zebras. Und Mais! So viele fruchtbare Felder, auf denen alles wuchs. Der Anblick dieses Teils von Kenia machte es umso deprimierender und unvorstellbarer, dass unser Camp ausgerechnet dort gegründet worden war, wo es sich befand. Wir drückten die Gesichter gegen die Scheibe und fragten uns: Warum haben sie Kakuma nicht hier errichtet? Oder dort oder dort? Selbstverständlich war uns klar, dass die Kenianer, dass alle internationalen Einrichtungen, die sich um Vertriebene kümmern, ihre Flüchtlinge meist in besonders öden Winkeln der Erde unterbringen. Dort bleiben wir gänzlich abhängig – unfähig, Gemüse und Getreide anzubauen, Vieh zu züchten, ein irgendwie autonomes Leben zu führen. Ich verurteile weder den UNHCR noch die Länder, die Heimatlose aufnehmen, aber ich gebe es zu bedenken.
Während das Land an uns vorüberzog, sah ich meine Eltern, die ungefähre Vorstellung, die ich von ihnen hatte, auf jedem Hügel und hinter jeder Biegung. Es schien so logisch wie nur was, dass sie dort auf der Straße vor uns waren. Warum konnten sie nicht hier sein, warum konnten wir nicht durch reine Willenskraft wieder zusammenfinden? Bestimmt würde mein Vater eine Möglichkeit sehen, in Kenia zu leben und Erfolg zu haben. Schon der Gedanke, dass meine Mutter hier war, mit mir gemeinsam über diese grünen Wege ging, an jenem Fluss entlang, vorbei an diesen Giraffen – für einige Stunden während der Fahrt schien mir das alles ganz und gar möglich.
Wir übernachteten in Ketale, in einem Hotel mit Betten und Bettwäsche und Strom und fließendem Wasser. Die Stadt war zwar nicht so groß wie Nairobi, aber sie beeindruckte uns trotzdem schwer. Wir waren es nicht gewohnt, dass der Nachthimmel von Lampen durchlöchert wurde. Einige von den Somalis hatten dergleichen schon gesehen, aber für uns aus dem Südsudan war das ein gänzlich neuer Anblick. Selbst bei uns zu Hause, vor dem Krieg, gab es in den Dörfern keine Sanitärinstallationen, und solche Annehmlichkeiten wie Bettwäsche und Handtücher waren selten und heiß begehrt. In Ketale aßen wir im Restaurant des Hotels, in dem wir untergebracht waren, tranken kalte Getränke aus dem Kühlschrank, schoben Eiswürfel – die zumindest ein Teil der Gruppe nicht kannte – im Mund hin und her. Wenn wir am nächsten Tag umgekehrt wären, hätte schon allein die Nacht in Ketale die Reise unvergesslich gemacht. Während der ganzen Zeit in Ketale wechselten Tabitha und ich kaum ein Wort miteinander, sparten unsere Gespräche für später auf. Die Gelegenheit würde kommen, das wussten wir, wir mussten nur abwarten und wachsam bleiben.
Wir
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