Weit Gegangen: Roman (German Edition)
tatsächlich eine richtige Verabredung stattfinden würde. Es war undenkbar, dass ein junger Mann und eine junge Frau allein miteinander weggingen, nicht in ein Restaurant, nicht einmal zu einem Spaziergang. Eine Verabredung konnte daher beispielsweise ein Treffen in der Kirche oder an einem anderen öffentlichen Ort bedeuten, sodass nur Tabitha und ich wussten, dass überhaupt eine Verabredung stattfand.
Tabitha sah mich an und lächelte, als habe sie mich nur kurz quälen wollen. Das tat sie oft, damals und auch später – in all den Jahren, die ich sie kannte.
– Ich sag dir demnächst Bescheid.
Das wunderte mich nicht. Es war nicht üblich, dass ein Mädchen sofort antwortete. Normalerweise wurde ein Zeitpunkt vereinbart, meist ein paar Tage später, an dem die Antwort entweder durch die Betreffende selbst oder durch einen Boten erfolgte. Wenn kein Zeitpunkt vereinbart wurde, bedeutete das, dass die Antwort negativ ausfiel.
In diesem Fall erfuhr ich am nächsten Tag durch Abuk, dass ich die Antwort am kommenden Sonntag nach der Messe am Südeingang der Kirche erhalten sollte. Die Tage bis dahin waren qualvoll, aber erträglich, und als der Augenblick kam, erschien sie am verabredeten Treffpunkt.
– Wie war die Hausaufgabe, die du dir selbst aufgegeben hast?
Das war mein Versuch, charmant zu sein.
– Wie meinst du das?
Ich meinte, dass es einer gewissen Komik nicht entbehrte, meine Frage, ob sie sich mit mir verabreden wolle, nicht zu beantworten, als ich sie stellte, sondern nach Hause zu gehen und fünf Tage darüber nachzudenken. Aber es klang nicht komisch, zumindest nicht so, wie ich es formuliert hatte.
– Nichts. Entschuldige. Vergiss es, sagte ich.
Sie war bereit, es zu vergessen. Sie vergaß vieles von dem, was ich sagte. In der Hinsicht war sie gnädig.
– Ich habe über deine Frage nachgedacht, Achak, und ich bin zu einer Entscheidung gekommen.
Sie war immer hinreißend dramatisch.
– Ich habe Erkundigungen über dich eingeholt … und ich habe nichts Schlechtes gehört.
Offensichtlich hatte sie nicht mit Frances gesprochen.
– Also werde ich mich mit dir verabreden, sagte sie.
– Oh, Gott sei Dank!, sagte ich, wobei ich den Namen des Herrn zum ersten Mal im Leben missbrauchte, aber nicht zum letzten Mal.
Ich weiß nicht recht, was als unsere erste richtige Verabredung gelten könnte. Nach dem Treffen vor der Kirche sahen wir einander oft, aber nie allein. Wir unterhielten uns nach der Kirche und in der Schule, und über meine Stiefschwester Abuk schickte ich ihr Botschaften, in denen ich meine Bewunderung für sie zum Ausdruck brachte und ihr mitteilen ließ, wie oft ich an sie dachte. Auch sie schickte mir Botschaften, sodass Abuk gut zu tun hatte. Falls die Botschaften als eilig eingestuft wurden, kam sie mit wedelnden Armen und völlig atemlos quer durchs Lager gelaufen. Wenn sie sich dann endlich wieder beruhigt hatte, teilte sie mir beispielsweise Folgendes mit:
– Tabitha denkt heute mit einem Lächeln an dich.
Zwischen jungen Leuten wie uns konnte es kaum privaten Kontakt geben, selbst wenn sie so wahnsinnig ineinander verliebt waren wie Tabitha und ich. Das Umwerben und überhaupt jeder direkte Kontakt erfolgte vor aller Augen, damit man keine fragenden Blicke oder das Missfallen der Ältesten auf sich zog. Aber selbst vor aller Augen, am helllichten Tag und in der Öffentlichkeit, gelang es uns, das ein oder andere zu tun, um unsere bescheidenen Sehnsüchte zu stillen. Diejenigen, die mich in Pinyudo gekannt hatten und wussten, was im Schlafzimmer der Königlichen Mädchen passiert war, wunderten sich über den keuschen Umgang zwischen Tabitha und mir. Aber was in Pinyudo geschehen war, kam mir jetzt vor wie außerhalb der Zeit. Das hatten Kinder getan, die derartigen Entdeckungen keine Bedeutung beimaßen.
Das erste Mal, dass ich Tabitha in die Arme schließen konnte, war an einem Samstagmorgen, inmitten Dutzender Menschen während eines Volleyballspiels. Ich war mit den Dominics in einer Mannschaft, wir traten gegen eine Gruppe überheblicher Somalis an und wurden von etlichen Dinka-Mädchen in unserem Alter und jünger angefeuert. In Kakuma gab es keine richtigen Cheerleader, und obwohl viele Mädchen selbst Sport trieben, war Tabitha zu dem Spiel gekommen, um mich anzufeuern und sich an mich zu schmiegen. In jeder Kultur gibt es Schlupflöcher, die von hormonell gepeinigten Teenagern genutzt werden können, und wie wir herausgefunden hatten, war es in Kakuma
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