Weit Gegangen: Roman (German Edition)
sollten nach Nairobi fahren, um die Flüchtlinge in Kakuma zu vertreten. Es würde das erste Mal in der Geschichte des Wettbewerbs sein – einer ziemlich langen und erfolgreichen Geschichte, wie man uns sagte –, dass Flüchtlinge teilnahmen. Wir würden also alle hinfahren, auch Tabitha, und Miss Gladys würde die einzige Aufsichtsperson sein.
In den Wochen vor unserer Abreise sprachen Tabitha und ich kaum über die Fahrt. Es war einfach unvorstellbar, dass wir miteinander allein sein würden, dass wir vielleicht einen Ort für unseren ersten Kuss finden würden. Ich glaube, wir waren beide von den Möglichkeiten überwältigt. Ich schlief schlecht. Ich ging zappelig und unkontrolliert grinsend durchs Camp, während mein Magen unaufhörlich revoltierte.
– Erster Kuss!, nannte Noriyaki mich nur noch. Jeden Morgen, wenn ich zur Arbeit kam, waren das seine ersten Worte. Hallo, Erster Kuss! Wenn ich irgendetwas fragte, antwortete er, Ja, Erster Kuss. Nein, Erster Kuss.
Ich musste ihn mit größter Ernsthaftigkeit bitten, damit aufzuhören.
Eines Tages kam Abuk, diesmal in ihrer Funktion als Gop Chols Botin, mit der dringenden Aufforderung zu uns ins Büro, ich solle sofort nach der Arbeit zum Abendessen kommen. Ich sagte ihr, das würde ich, aber nur wenn sie mir verriet, was der Grund dafür sei.
– Das darf ich dir nicht verraten, sagte sie.
– Dann kann ich nicht kommen, sagte ich.
– Bitte, Valentino!, jammerte sie. – Ich musste schwören , dass ich nichts sage. Bitte , bring mich nicht in Schwierigkeiten. Sie würden es merken , wenn ich es dir verrate !
Abuk machte gerade eine höchst dramatische Phase in ihrem Leben durch und sprach unnötigerweise viel zu viele Worte mit zu viel Emphase aus.
Ich ließ sie ohne eine Antwort gehen und versuchte am Abend auf dem Heimweg, nicht darüber nachzudenken, was mich wohl erwartete. Ich war ziemlich sicher, dass Gop mir eine Predigt halten würde, ich sollte vorsichtig mit Tabitha sein, wo wir auf der geplanten Fahrt doch zwischendurch bestimmt auch unbeaufsichtigt sein würden. Bis jetzt hatte er mich noch nicht darauf angesprochen.
Als ich zu Hause ankam, waren Gop und Ayen da, ebenso alle anderen Mitglieder meiner KakumaFamilie und eine Handvoll Nachbarn, von den kleinsten Kindern bis hin zu den älteren Erwachsenen. Unter all den Leuten waren zwei, die in unserer Unterkunft besonders deplatziert wirkten: zunächst einmal Miss Gladys. Es war ein Schock, sie in dem Raum stehen zu sehen, in dem wir unsere Mahlzeiten aßen. Und obwohl man hätte meinen können, dass ihre Schönheit in einer solchen Umgebung leiden würde, strahlte sie nur umso mehr. Sie unterhielt sich mit einer anderen Frau, einer eleganten Dinka-Frau, die ein kleines Mädchen auf dem Arm hielt. Das war, wie Ayen mir erklärte, Deborah Agok.
Sie sei eine bedeutende Frau, erfuhr ich von Adeng, und habe eine Neuigkeit für mich, die unser Leben verändern würde. Adeng hatte beteuert, dass dies genau die Worte waren, die ihr Vater ihr aufgetragen hatte, doch da ich wusste, dass Gop einen gewissen Hang zur Übertreibung hatte, dachte ich nicht großartig darüber nach, was das wohl für eine Neuigkeit sein mochte. Einmal hatte Gop uns aufgrund eines ähnlich unsagbar wichtigen Ereignisses alle zusammengerufen, um dann zu verkünden, dass er neue Laken für sein Bett erstanden hatte.
Auf jeden Fall war es überwältigend, all diese Menschen in einem Raum zu sehen. Es machte es auch ein wenig schwierig, sich zu bewegen, da unsere Unterkunft nicht für so viele Personen ausgelegt war. Ich hatte noch immer keine Ahnung, was der Anlass für diese Versammlung war, doch sogleich lenkte mich ein vertrauter Geruch ab. Auf dem Feuer kochte ein mir bekanntes Gericht, dessen Namen ich schon lange vergessen hatte.
– Kon diong!, sagte Ayen. – Erinnerst du dich?
Ich erinnerte mich. Es war ein Gericht, das ich seit Jahren nicht mehr gekostet, dessen Namen ich schon ewig nicht mehr gehört hatte. Kon diong ist eine Spezialität meiner Heimat, und es wird nicht alle Tage gegessen. Es ist ein fester Brei aus Hirsemehl, Käse und entrahmter Sauermilch, also Zutaten, an die man nicht so leicht herankam. Es ist ein Gericht, das gern in wohlhabenden Familien gegessen wird und auch nur während der Regenzeit, wenn die Kühe reichlich Milch produzieren.
– Was soll das alles, fragte ich schließlich. Meine Kakuma-Schwestern betrachteten mich mit einem seltsamen Blick, und alle schienen mir mehr Platz zu
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