Weit Gegangen: Roman (German Edition)
und das Bad und gab mir einen Schlüssel für die Wohnung und für die Haustür, dann trabten er und Grace die Treppe hinunter, und weg waren sie.
Man stelle sich vor, ich war allein in dieser Wohnung! Sie hatten mir den Schlüssel gegeben. Ich blieb eine Weile sitzen und beobachtete die Menschen auf der Straße. Es war das erste Mal, dass ich im zweiten Stockwerk eines Gebäudes war. Es war ziemlich verwirrend, ähnelte aber irgendwie dem Gefühl, mit Moses und William K in dem Baum über Amaths Haus zu sitzen und zu lauschen, ob von den Gesprächen zwischen ihr und ihren Schwestern etwas zu uns herübergeweht wurde.
Nachdem ich eine Stunde lang aus dem Fenster geschaut hatte, probierte ich den Fernseher aus. Bis dahin hatte ich nur ganz selten Fernsehen geschaut, und es erwies sich als Problem, dass ich mir selbst überlassen mit zwölf Sendern allein war. Drei Stunden lang rührte ich mich nicht vom Fleck, wie ich beschämt zugeben muss. Aber was sah ich nicht alles! Ich sah Spielfilme, die Nachrichten, Fußball, Kochsendungen, Tierfilme, einen Film, in dem zwei Sonnen am Himmel standen, eine Dokumentation über die letzten Tage von Adolf Hitler. Ich fand eine Schulsendung, in der die Moderatoren mit demselben Buch arbeiteten, das wir in Kakuma benutzten. Und es erfüllte mich mit einem gewissen Stolz zu wissen, dass etwas, das gut genug für die Kenianer in Nairobi war, auch von den Flüchtlingen in Kakuma verwendet wurde.
Am Nachmittag, nach viel zu viel Fernsehen, hörte ich die Schüler aus der Schule kommen. Ich schloss die Tür mit meinem Schlüssel ab und ging nach draußen, um mir all die Jungen und Mädchen anzusehen, die in ihren Schuluniformen auf dem Weg nach Hause waren und tuschelten, als sie mich sahen.
– Turkana!
– Sudan!
– Flüchtling!
Sie zeigten auf mich und kicherten, aber sie waren nicht unfreundlich, und ich liebte sie dafür, dass sie nicht unfreundlich waren. Hier spazierten die Schülerinnen ganz ungezwungen herum und trugen weiße Blusen mit karierten Röcken und passenden Halstüchern. Es war zu viel. Ich wollte auch eine Schuluniform tragen. Ich wollte einer von ihnen sein, wollte jeden Tag wissen, was ich anziehen würde, wollte Kenianer sein und über geteerte Straßen zur Schule gehen und über alles und nichts lachen. Auf dem Heimweg irgendwo Süßigkeiten kaufen und sie essen und lachen! Das wünschte ich mir. Dort, wo ich schlief, wäre ich von richtigen Wänden umgeben, und ich könnte einen Hahn aufdrehen, und es würde Wasser herauskommen, so viel ich wollte, kalt wie Stein, und über meine Hände rinnen.
Der Film, den Mike, Grace und ich uns am Abend ansahen, war, wie ich mich genau entsinnen kann, Men in Black . Ich wusste im Großen und Ganzen , worum es in dem Film ging, war aber unsicher, was real war und was nicht. Es war mein erster Kinobesuch. Der Film war verwirrend, aber ich tat mein Bestes, die Reaktionen des Publikums nachzuahmen. Wenn sie lachten, lachte ich mit. Wenn sie verängstigt schienen, bekam auch ich Angst. Doch die ganze Zeit über fiel es mir ungemein schwer, das Reale vom Nichtrealen zu trennen. Nach dem Film luden Mike und Grace mich auf ein Eis ein, und sie fragten mich, wie mir Men in Black gefallen habe. Ich konnte unmöglich zugeben, dass ich die meiste Zeit nicht begriffen hatte, was eigentlich los war, also lobte ich den Film über den Klee und schloss mich ansonsten allem an, was sie darüber zu sagen hatten. Sie seien Fans von Tommy Lee Jones, sagten sie, und hätten sich schon viermal Auf der Flucht angesehen.
An jenem Abend gingen wir durch die Straßen von Nairobi zurück zu ihrer Wohnung, und ich dachte über dieses Leben nach. Einfach Eis essen zu gehen! Wir mussten uns sogar zwischen zwei Eisverkäufern entscheiden! Ich weiß noch, dass ich mir der flüchtigen Natur dieses Abends bewusst war, dass ich im Klaren darüber war, in vier Tagen wieder in Kakuma zu sein. Obwohl ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen, ging ich immer langsamer. Ich wollte den Abend so weit wie möglich ausdehnen. Es war ein schöner Abend, die Luft war warm, der Wind schwach.
Zurück in der Wohnung wünschten Mike und Grace mir eine gute Nacht und sagten, ich solle mich ruhig am Kühlschrank bedienen oder noch fernsehen, wenn mir danach sei. Das war möglicherweise ein Fehler. Ich nahm mir nichts zu essen, weil ich sowieso schon pappsatt war, aber den zweiten Teil ihres Angebots nutzte ich weidlich aus. Ich weiß nicht, wann ich einschlief.
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