Weit Gegangen: Roman (German Edition)
fuhren am Morgen weiter, den Nachmittag und die ganze Nacht hindurch, und am Morgen danach waren wir in Nairobi. Ich kann nur annähernd die Ehrfurcht beschreiben, die eine Gruppe junger Menschen wie uns überfällt, die viele Jahre in einem Lager am Rande der Welt verbracht haben und auf einmal so etwas wie Nairobi sehen, eine der größten Städte Afrikas. Wir hatten keine Vergleichsgrößen. Im Bus trat andächtige Stille ein. Man sollte meinen, in einem Bus voller Teenager würden alle lärmend auf Gebäude zeigen, auf Autos und Brücken und Parks. Doch in diesem Bus war es mucksmäuschenstill. Unsere Gesichter waren gegen die Scheiben gepresst, aber niemand sagte ein Wort. Manches von dem, was wir sahen, war einfach nicht zu begreifen. Häuser über Häuser, Fenster über Fenster. Das höchste Gebäude, das ich bis zu dem Tag gesehen hatte, war exakt zwei Stockwerke hoch. Und das Wissen, dass diesen Gebäuden keine Gefahr drohte, dass sie unangetastet stehen bleiben würden – dieses Gefühl von Dauerhaftigkeit war etwas, das ich seit vielen Jahren nicht mehr erlebt hatte.
Als wir an jenem Morgen in Nairobi ankamen, setzte man uns an einer Kirche ab, und dort lernten wir unsere Betreuer kennen. Wir wurden auf Gastfamilien verteilt, von denen die meisten in irgendeiner Weise etwas mit dem Nationaltheater zu tun hatten. Ich kam zu einem Mann namens Mike Mwaniki, einem ungewöhnlich gut aussehenden und gebildeten Mann, dachte ich. Er war schätzungsweise dreißig Jahre alt und gehörte zu den Gründern der in Nairobi ansässigen Mavuno Drama Group. Sie brachten Werke junger kenianischer Stückeschreiber auf die Bühne.
– Du bist der Richtige, oder?, sagte er zu mir. – Du bist unser Mann!
Er schüttelte mir herzlich die Hand und schlug mir auf den Rücken und gab mir ein Stück Torte. Ich hatte noch nie Torte gegessen, und im Nachhinein erscheint es ziemlich absurd, dass er mich um halb zehn Uhr morgens mit Torte begrüßte, aber er tat es, und sie schmeckte köstlich. Eine Sahnetorte mit Schichten aus Orangenmarmelade.
Die anderen Mitglieder der Gruppe verabschiedeten sich mit ihren Betreuern, und Tabitha ging mit ihren, einem älteren Ehepaar, das teuer gekleidet war und einen Landrover fuhr. Miss Gladys verschwand im Handumdrehen mit einem sehr gut und reich aussehenden Kenianer – wir sahen sie erst zwei Tage später zur Vorstellung wieder – und ich ging mit Mike. Er wohnte mit seiner Freundin zusammen, einer zierlichen und intelligenten Frau namens Grace, und sie lebten in einem Teil der Stadt, der BuruBuru Phase 3 hieß. Es war eine verrückte Gegend, in der es hektischer zuging, als ich es je irgendwo erlebt hatte. In Kakuma lebten achtzigtausend Menschen, aber es gab wenig Verkehr, kaum Autos, kein Hupen, nur vereinzelt Strom und so gut wie nie Gedränge. Aber in Nairobi, in BuruBuru Phase 3, war der Straßenlärm unausweichlich. Motorräder, Autos und Busse waren rund um die Uhr unterwegs, und der süßliche giftige Dieselgeruch war allgegenwärtig. Selbst in ihrer Wohnung, wo der Boden und die Scheiben so sauber waren, war die Straße zu spüren, der Geruch der Autos und das Geräusch von Menschen, die unter den Fenstern vorbeigingen. Die Autos hatten alle möglichen Farben, eine Vielfalt, wie ich sie mir nicht hätte träumen lassen. In Kakuma waren alle Fahrzeuge weiß, identisch, und alle trugen sie das UN-Symbol.
Ich bekam das Schlafzimmer von Mike und Grace. Die Matratze war riesengroß und fest, und im ersten Moment, als ich das Zimmer betrat, war das Bettzeug so weiß, dass ich mich abwenden musste. Ich stellte meine Tasche ab und setzte mich auf einen kleinen Korbstuhl in der Ecke. Ich hatte grauenhafte Kopfschmerzen. Ich glaubte mich allein im Zimmer, deshalb ließ ich den Kopf in die Hände sinken und versuchte, meinen Schädel durch Massage davon zu überzeugen, dass das alles gut war. Aber mein Kopf war häufig überfordert, und die besten Augenblicke meines Lebens wurden oft von Migräneanfällen unerklärlicher Herkunft begleitet.
– Alles klar?, fragte Mike.
Ich blickte auf. Er stand in der Tür.
– Alles prima, sagte ich. – Alles bestens. Ich bin sehr glücklich.
Ich brachte ein Lächeln zustande, das ihn überzeugen sollte.
– Wir gehen heute Abend ins Kino, sagte er. – Hast du Lust mitzukommen?
Ich sagte ja. Er und Grace mussten zur Arbeit. Sie arbeiteten bei einem Autohändler in der Nähe, aber sie würden mich um sechs abholen. Mike zeigte mir den Fernseher
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