Weit Gegangen: Roman (German Edition)
sie.
– Ihr werdet Krankheiten bekommen, ihr werdet AIDS bekommen, warnten sie.
– Wer soll den Sudan regieren, wenn der Krieg zu Ende ist?, fragten sie.
Da viele Elternlose glaubten, dass diese Ältesten den Prozess aufhielten, wurde ein Treffen zwischen unseren Sprechern und ihren angesetzt. Hunderte nahmen daran teil, obwohl die Kirche, in der die Versammlung stattfand, nur einen Bruchteil davon aufnehmen konnte. Die Menschen drängten sich in dichten Trauben um das kleine Wellblechgebäude, und als Achor Achor und ich eintrafen – wir sollten unter den Repräsentanten der Jugendlichen sein –, war es völlig ausgeschlossen, drinnen noch einen Platz zu finden. Also stellten wir uns in den Kreis der draußen Versammelten und hörten zu. Aus der Kirche drang wütendes Geschrei, und es wurden die üblichen Sorgen geäußert: Wir würden unsere Sitten und unsere Geschichte aus den Augen verlieren, und was der Verlust von viertausend jungen Männern bedeuten würde. Schließlich gab es auch Zweifel daran, dass wir wirklich evakuiert würden.
– Wie soll sich unser Land erholen, wenn wir die Jugend verlieren?, wurde gesagt.
– Ihr seid die Hoffnung des Landes, ihr Jungen. Was soll aus unserem Land werden, wenn Frieden ist? Wir haben unser Leben riskiert, damit ihr in Äthiopien zur Schule gehen konntet, wir haben euch hierher nach Kakuma gebracht. Ihr sprecht jetzt viele Sprachen, ihr könnt lesen und schreiben und werdet auch noch in verschiedenen Berufen ausgebildet. Ihr zählt zu den Bestausgebildeten unseres Volkes. Wie könnt ihr fortgehen, wo wir dem Sieg so nah sind, dem Frieden?
– Aber es ist kein Frieden, und es wird keinen Frieden geben!, sagte ein junger Mann.
– Ihr habt kein Recht, uns zurückzuhalten, sagte ein anderer.
Und so weiter. Die Versammlung dauerte bis in die späte Nacht, und Achor Achor und ich gingen, nachdem wir acht Stunden gestanden und zugehört hatten, wie sich die Debatte im Kreis drehte und verzettelte. In jener Nacht wurde nichts geklärt, aber die Ältesten begriffen, dass sie diese viertausend jungen Männer nicht kontrollieren konnten. Wir waren zu viele, und wir gierten zu sehr danach weiterzukommen. Wir waren jetzt eine eigene kleine Armee, wir waren groß und gesund und regelrecht versessen darauf, das Lager zu verlassen, ob nun mit ihrem Segen oder ohne.
Der erste Schritt auf dem Weg raus aus Kakuma war das Verfassen unserer Lebensläufe. Der UNHCR und die Vereinigten Staaten wollten wissen, woher wir kamen, was wir durchgemacht hatten. Wir sollten unsere Geschichte auf Englisch schreiben, und wer nicht genug Englisch konnte, sollte sich alles von jemand anderem aufschreiben lassen. Wir wurden aufgefordert, über den Bürgerkrieg zu schreiben, über den Verlust unserer Familien, über das Leben in den Flüchtlingscamps. – Warum wollt ihr Kakuma verlassen?, fragten sie. – Habt ihr Angst, in den Sudan zurückzukehren, selbst wenn dort Frieden herrscht? Wir wussten, dass diejenigen, die sich in Kakuma oder im Sudan verfolgt fühlten, besondere Berücksichtigung erfahren würden. Vielleicht hatte die eigene Familie im Sudan einer anderen Familie etwas angetan, und man fürchtete sich vor Vergeltung? Vielleicht war man aus der SPLA desertiert und fürchtete deren Strafe? Es konnte alles Mögliche sein. Ganz gleich, für welche Strategie wir uns entschieden, wir wussten, dass unsere Geschichten glaubwürdig klingen mussten, dass wir uns an alles erinnern mussten, was wir gesehen und getan hatten – keine Notsituation war zu unbedeutend.
Ich schrieb meine Geschichte in ein Prüfungsheft, dessen kleine Seiten blau liniert waren. Es war das erste Mal, dass ich meine Geschichte erzählte, und ich hatte Mühe zu entscheiden, was wichtig war und was nicht. Mein erster Entwurf war nur eine Seite lang, und als ich ihn Achor Achor zeigte, lachte er laut auf. Seiner war schon fünf Seiten lang, und er war noch nicht einmal in Äthiopien angekommen. – Was ist mit Gilo?, fragte er. – Was ist mit Golkur? Was ist mit damals, als wir auf die Flugzeuge zurannten, weil wir dachten, sie würden Lebensmittel abwerfen, und stattdessen warfen sie Bomben ab und töteten acht Jungen? Was ist damit?
Ich hatte es vergessen, wie so viele andere Dinge auch. Wie sollte ich das alles zu Papier bringen? Es schien unmöglich. So oder so, der größte Teil des Lebens würde in dieser Geschichte, diesem Scheibchen des Lebens, das ich gelebt hatte, ausgelassen bleiben. Aber ich versuchte
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