Weit Gegangen: Roman (German Edition)
es trotzdem. Ich zerriss meine erste Fassung und begann wieder von vorn. Ich arbeitete wochenlang, dachte an jedes Detail, das ich gesehen hatte, an jeden Pfad, jeden Baum, jedes gelbliche Augenpaar, jeden Leichnam, den ich begraben hatte.
Als ich fertig war, hatte ich neun Seiten geschrieben. Als ich sie abgab, machten die UN ein Passbild von mir und hefteten es an meine Akte. Es war das erste Foto dieser Art von mir, das ich je sah. Ich war schon auf Gruppenaufnahmen zu sehen, mein Kopf ein unklarer Punkt in der Menge, aber dieses Bild von mir allein, wie ich starr geradeaus blickte, war eine Offenbarung. Ich starrte stundenlang auf das Foto und gab den Ordner tagelang nicht aus der Hand, war mir selbst nicht im Klaren, ob dieses Bild und diese Geschichte wirklich zu mir gehörten.
Heute finde ich, dass es ein Fehler war, aber eines Tages zeigte ich Maria das Foto. Ich wollte, dass sie es sah. Ich wollte, dass alle es sahen. Ich wollte immerzu darüber reden, wer ich jetzt war, der junge Mann, der fotografiert worden und auf dem Weg in die Vereinigten Staaten war. Ich fand sie vor ihrer Unterkunft beim Wäscheaufhängen.
– So hab ich dich noch nie lächeln sehen, sagte sie. Sie hielt das Bild lange Zeit in der Hand, solche Fotos waren damals selten. – Darf ich es behalten?, fragte sie.
Ich sagte nein und erklärte, dass es für die Akte gebraucht wurde, dass es wichtig für meinen Antrag war. Sie gab es mir zurück.
– Meinst du, wir werden auch ausgewählt? Die Mädchen?
Auf diese Frage war ich nicht vorbereitet. Soweit ich wusste, war nie die Rede davon gewesen, dass Mädchen bei dieser Umsiedelung berücksichtigt werden sollten. Ich hielt es für ausgeschlossen.
– Ich weiß nicht, sagte ich.
Maria lächelte ihr hartes Lächeln.
Aber es ist möglich, ganz bestimmt, sagte ich und glaubte fast meinen eigenen Worten.
– Ich hab nur Spaß gemacht, sagte sie. – Ich würde sowieso nicht weggehen.
Sie war eine miserable Lügnerin, konnte einem nie etwas vormachen.
Ich nahm mir vor herauszufinden, ob sich auch Mädchen bewarben, und wenige Tage später erfuhr ich, dass tatsächlich viele Mädchen, Dutzende Mädchen ihre Bewerbungen eingereicht hatten. Ich rannte zu Maria, um es ihr zu sagen, aber sie war nicht zu Hause. Ihre Nachbarn sagten, sie sei an der Wasserpumpe, und als ich sie dort fand, erzählte ich ihr, was ich inzwischen wusste: dass auch Mädchen aufgefordert waren, sich zu bewerben, dass sie einfach nur belegen mussten, dass sie keine Familie hatten und unverheiratet waren. Als ich ihr das sagte, strahlte für einen Moment ein Licht in ihren Augen auf und erlosch dann wieder.
– Ich kann ja mal sehen, was sich machen lässt, sagte sie.
– Ich kann morgen mit dir hingehen, sagte ich. – Dann besorgen wir uns einen Antrag.
Sie war einverstanden, sich am Morgen mit mir am UN-Gelände zu treffen. Aber als ich am nächsten Tag dort ankam, war sie nicht da.
– Sie ist an der Wasserpumpe, sagte ihre Schwester.
Ich fand sie erneut in der Warteschlange. Wieder saß sie mit ihren beiden Kanistern da.
– Ich warte erst mal ab, was mit euch wird, sagte sie. – Ich bewerbe mich dann beim nächsten Mal.
– Ich finde, du solltest den Antrag jetzt stellen. Das könnte eine Weile dauern.
– Dann vielleicht nächste Woche.
Sie schien nicht besonders motiviert zu sein, den Prozess in Gang zu bringen. Vielleicht lag es an diesem Tag, zu warm und windig, ein Tag, der nur wenige vor die Tür lockte. An dem Tag sah Maria mich nicht an, malte sich nicht aus, wie es wäre, alldem entfliehen zu können. An dem Tag gefiel mir ihre Haltung nicht, und ich ließ sie allein dort im Staub sitzen. Die Schlange bewegte sich. Maria nahm ihre leeren Kanister, trug sie ein paar Schritte weiter und setzte sich wieder.
– Was ist mit deinem Antrag?, fragte mich Noriyaki. – Irgendwas Neues?
Seit der anfänglichen Welle der Begeisterung über die Umsiedlungen waren viele Monate vergangen. Wir alle hatten unsere Geschichten eingereicht, und seitdem waren viele junge Männer zu einem Gespräch auf das UN-Gelände bestellt worden. Aber ich noch nicht. Ich sagte Noriyaki, dass es nichts Neues gab, dass ich nichts mehr gehört hatte, seit meine Unterlagen eingereicht waren. Er nickte und lächelte.
– Gut, gut, sagte er. – Das ist gut. Das bedeutet, es geht alles seinen Gang.
Noriyaki war ein Magier, wenn es darum ging, mir die unwahrscheinlichsten Dinge einzureden, und obwohl ich nichts von den UN
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