Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Ich war bisher nicht einmal zu einem Gespräch eingeladen worden. Dieses Gespräch war der zweite Schritt, und erst danach stand irgendwann der Name auf den Listen. Irgendetwas schien nicht zu stimmen.
– Es tut mir sehr leid, sagte Achor Achor eines Tages.
Ich hatte es schon erfahren. Achor Achors Name war am Morgen ausgehängt worden.
– Wann reist du ab?, fragte ich.
– In einer Woche.
So schnell ging das. Ein Name erschien auf einer Liste, und nur wenige Tage später war dieser Mensch fort. Wir mussten alle bereit sein.
Ich schaffte es, ihm zu gratulieren, doch meine Freude über sein Glück wurde durch die Ratlosigkeit gedämpft, die ich empfand. Ich hatte alles richtig gemacht, dachte ich. Durch meinen Job kannte ich sogar ein paar der UN-Mitarbeiter, die mit dem Umsiedlungsprojekt zu tun hatten. Nichts davon schien mir zu nützen. Ich war kein Soldat gewesen, hatte mich in Kakuma vorbildlich benommen, und ich war nicht der Einzige, der sich darüber wunderte, wie viele vor mir nach Amerika geschickt wurden.
Niemand konnte es verstehen, aber an Erklärungsversuchen bestand kein Mangel. Am plausibelsten war noch der, es gäbe einen bekannten SPLA-Soldaten namens Achak Deng und man habe uns beide verwechselt. Das wurde nie bestätigt, und Achor Achor hatte seine eigene Theorie.
– Vielleicht wollen sie dich hier nicht verlieren.
Das munterte mich nicht gerade auf.
– Du bist zu wertvoll für das Camp, scherzte er.
Ich wollte nicht wertvoll für das Camp sein. Ich überlegte, ob ich meine Arbeit eine Weile weniger gewissenhaft tun sollte. Könnte ich meine Pflichten vernachlässigen, weniger tüchtig wirken?
– Ich spreche mit den UN-Leuten, wenn ich sie das nächste Mal sehe, sagte er.
Alle Jungen, die in Gops Haushalt gelebt hatten, waren inzwischen abgeholt und in die Staaten gebracht worden – nach Detroit, San Diego, Kansas City. Schon bald zählte ich zu den letzten Männern meines Alters im Camp. Bei den anderen, deren Anträge missachtet oder abgelehnt worden waren, handelte es sich um bekannte SPLA-Offiziere oder Kriminelle. Ich war der Einzige, den ich kannte, der eine makellose Vorgeschichte hatte, aber noch immer auf das Gespräch wartete. Ich war zum Gespräch bestellt worden, ja, aber jedes Mal, wenn es so weit war, kam etwas dazwischen und das Gespräch wurde verschoben oder ganz abgesagt. Einmal kam es zu Auseinandersetzungen zwischen den Sudanesen und den Turkana, wobei es auf beiden Seiten jeweils einen Toten gegeben hatte, und Kakuma wurde für Besucher geschlossen. Ein anderes Mal musste der amerikanische Anwalt, der bei allen Gesprächen anwesend war, im letzten Moment nach Hause nach New York. In drei Monaten würde er wiederkommen, teilte man uns mit.
Es gibt kein Gefühl wie Zurückweisung kombiniert mit Verlassenwerden. Ich hatte über die Entrückung gelesen, bei der vierundsechzigtausend Seelen vor den letzten Tagen, an denen die Erde von Flammen verschlungen wird, in den Himmel gehoben werden sollen. Und in den nächsten sechs Monaten des Jahres 2000 hatte ich das starke Gefühl, dass ich in Kakuma zurückgelassen wurde, während alle, die ich kannte, aus der Hölle gezogen und zum Königreich Gottes emporgehoben wurden. Höhere Mächte hatten mich geprüft und des ewigen Höllenfeuers wert erachtet.
Achor Achor ging eines Morgens fort, und wir wollten unseren Abschied möglichst undramatisch gestalten. Er trug einen Wintermantel, weil ihm jemand gesagt hatte, in Atlanta wäre es sehr kalt. Wir schüttelten uns die Hand, ich klopfte ihm auf die ausgestopfte Schulter, und beide taten wir so, als würden wir uns wiedersehen, und das bald. Mit ihm zusammen ging ein weiterer der Elf, Akok Anei, und als ich ihnen nachsah, wie sie die Straße zum Flugplatz hinuntertrotteten, drehte Achor Achor sich noch einmal zu mir um, und seine Augen verrieten seine Traurigkeit. Er glaubte nicht, dass ich das Lager je verlassen würde.
Achor Achor folgten Hunderte andere. Dutzende Flugzeuge stiegen in den Himmel und trugen Lost Boys wie mich davon. Ich kannte von vielen nicht einmal den Namen.
Alle fanden meine fortwährende Anwesenheit in Kakuma ungemein komisch.
– Die verschieben dein Gespräch, bis du der Allerletzte bist!, sagte der lustige Dominic zu mir. Er war der Letzte der Dominics, der noch bei mir war, aber er hatte schon sein Gespräch gehabt und blickte daher hoffnungsvoll in die Zukunft.
– Du gehst nirgendwo mehr hin, Weit Gegangen!, lachte er. Er meinte das
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