Weit Gegangen: Roman (German Edition)
sich um einen geschlossenen UN-Bus, und ich stand mit George daneben und beobachtete, wie die Jungen von allen Seiten aus dem Lager angelaufen kamen. Es waren gute Jungen, lächelnde Jungen, ungefähr ein Drittel von ihnen war hier im Camp geboren worden. Hier geboren zu sein! Nie hätte ich das für möglich gehalten. Die anderen kamen aus vielen verschiedenen Gegenden des Sudan, waren zum Teil als ausgehungerte, halb tote Säuglinge hierher gebracht worden. Manchmal fragte ich mich, ob einer von ihnen das Stille Baby sein könnte. Vielleicht war das Stille Baby ein Junge gewesen. Es war möglich, natürlich. So oder so, ich liebte all diese Jungen gleichermaßen.
Sie waren alle aufgekratzt und inspizierten jeden Zentimeter des Busses, als sie einstiegen, während ich ihre Namen auf der Mannschaftsliste abhakte.
Zwei fehlten.
– Luke Bol Dut?, rief ich.
Die Jungen lachten. An Tagen wie diesen lachten sie über alles.
– Luke Bol Dut?
Ich blickte aus dem Fenster. Der Tag war klar, hell wie Leinen. Zwei Jungen kamen auf den Bus zugelaufen. Es waren Luke und Gorial Aduk, der andere Nachzügler. Sie trugen ihre Trikots und rannten so schnell, als wäre ihnen der Leibhaftige auf den Fersen.
– Dominic!
Das war Luke. Er kam fast hysterisch in den Bus gesprungen. Seine nächsten Worte brachte er kaum heraus. – Dominic!, sagte er erneut.
Nach weiteren fünfzehn Sekunden bekam er wieder Luft.
– Was ist denn, Luke?
– Dein Name steht auf der neuen Liste!
Ich lachte und schüttelte den Kopf. Ausgeschlossen.
– Doch, ehrlich! Und nicht bloß auf der Liste! Du bist auch für Kulturelle Orientierung eingetragen. Du hast es geschafft. Du kommst hier raus!
Der Kurs für Kulturelle Orientierung war der letzte Schritt. Doch vor diesem Schritt waren so viele andere: zuerst ein Schreiben, dann noch ein Gespräch, dann der Name auf der ausgehängten Liste. Das alles dauerte normalerweise Monate. Aber dieser verrückte Junge wollte mir weismachen, dass das alles zusammen am Schwarzen Brett zu lesen stand.
– Nein, sagte ich.
– Doch! Doch!, schrie Gorial. Er wollte mir auf den Rücken klopfen.
– Wartet, flüsterte ich.
Ich bat den Busfahrer zu warten und sagte den Jungen, sie sollten beim Bus bleiben. Ich drehte mich zu George um. Ich stammelte irgendetwas, wollte ihn bitten, einen Moment zu warten, während ich …
Er blies in seine Pfeife. – Lauf!
Ich rannte Richtung Schwarzes Brett. Konnte das wahr sein? Noriyaki hatte recht gehabt! Die wollten mich wirklich haben! Natürlich wollten sie! Wieso auch nicht? Sie hätten nicht so lange gewartet, wenn sie mich nicht hätten haben wollen.
Ich rannte.
Auf halbem Weg hielt ich inne. Was machte ich denn? Ich blieb stehen. Ich machte mich ja lächerlich, wenn ich wie verrückt zum Aushang rannte, bloß weil irgendwelche Neunjährigen mir sagten, mein Name sei auf der Liste. Falschmeldungen waren ein beliebter Scherz. Das passierte häufig und war nie lustig. Ich ging langsam weiter und überlegte schon, wieder umzukehren.
In dem Moment hörte ich Geschrei. Als ich mich umdrehte, sah ich Luke und Gorial gefolgt von einem ganzen Rudel Jungen auf mich zugerannt kommen.
– Lauf!, schrien sie. – Lauf zum Aushang!
Es sah aus, als würden sie mich gleich über den Haufen rennen. Ich wandte mich wieder um und rannte, die Jungen dicht hinter mir. Jetzt rannten wir alle, und die Jungen sprangen und hüpften um mich herum. Gop Chol, der von der Wasserpumpe zurückkam, sah uns die Straße hinunterrennen.
– Was ist los?, rief er.
Sein Gesicht brachte mich wieder zur Besinnung. Sollte ich ihm erzählen, was die Jungen gesagt hatten, ihm verraten, warum wir rannten?
Ich lächelte und lief weiter. Ich lief mit einer inneren Freude, wie ich sie seit frühen Kindertagen nicht mehr erlebt hatte.
– Er steht auf der Liste!, schrie Gorial ihm zu. – Dominic steht auf der Liste!
– Nein!, keuchte Gop. – Nein!
Er ließ seinen Wasserkanister fallen und rannte mit uns. Jetzt waren wir fünfzehn, die durchs Lager flitzten.
– Glaubst du wirklich, dein Name ist auf der Liste?, hechelte er neben mir.
– Ja, ja!, schrie Luke. – Ich kann schließlich lesen!
Wir rannten, Tränen strömten uns übers Gesicht, weil wir lachten und vielleicht auch weinten und vielleicht ein bisschen verrückt waren. Endlich erreichten wir das Schwarze Brett an der Informationsstelle des Lutherischen Weltverbandes, wo auch Kunsthandwerk von Flüchtlingen ausgestellt war.
Ich ließ
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