Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Ich möchte, dass du nett zu deinen Stiefmüttern bist, sagte sie.
Ich versprach es.
– Und dass du ihnen gehorchst. Sei tüchtig und hilfsbereit.
Ich versprach es.
Ich war es gewohnt, mit meinem Vater zu reisen. Auf seinen Geschäftsreisen nach Aweil, nach Wau, hatte er mich oft dazu auserkoren, ihn zu begleiten, denn schließlich sollte ich die Läden übernehmen, wenn er einmal zu alt dazu wäre. Jetzt verlegte mein Vater sein Geschäft in jenen größeren Ort an der Eisenbahnlinie, die den Norden mit dem Süden verband. Aweil lag im Südsudan, und seine Bevölkerung bestand hauptsächlich aus Dinka, aber es wurde von der Regierung gehalten und diente Khartoum als militärischer Stützpunkt. Mein Vater dachte, er könne dort unbehelligt seinen Geschäften nachgehen und sich aus dem eskalierenden Konflikt heraushalten. Er glaubte noch immer fest daran, dass die Rebellion oder was immer es war bald wieder abebben würde.
Unser Lastwagen kam am Abend an, und ich wurde im Halbschlaf zu einem Bett in dem Hof getragen, wo mein Vater uns untergebracht hatte. In der Nacht wurde ich von streitenden Männerstimmen geweckt. Flaschen zersplitterten. Ein Schrei. Ein Schuss zerriss den Himmel. Die Geräusche des Waldes waren fast verschwunden, verdrängt von vorbeigehenden Männergruppen, von Frauen, die nachts gemeinsam sangen, von den Schreien der Hyänen und tausend Hähnen.
Am Morgen erkundete ich den Markt, während mein Vater seine Freunde aus Aweil begrüßte. Zum ersten Mal waren Moses und William K nicht bei mir, und Aweil war groß und viel dichter bevölkert als Marial Bai. Dort hatte ich nur wenige gemauerte Häuser gesehen, aber hier gab es etliche und außerdem viel mehr Hütten mit Wellblechdach. Aweil kam mir reicher und städtischer vor als Marial Bai und gefiel mir nicht besonders. Ich sah viele neue und meist traurige Dinge an meinem ersten Tag, darunter auch meinen zweiten Menschen, dem eine Hand fehlte. Ich folgte ihm, einem älteren Mann in einem abgetragenen, gold-blau gemusterten Dashiki, über den Markt und beobachtete, wie der Armstumpf unter dem Ärmelaufschlag hin-und herschwang. Ich fand nie heraus, wie er seine Hand verloren hatte, aber ich nahm an, dass es hier noch mehr fehlende Gliedmaßen geben würde. Aweil wurde von der Regierung kontrolliert.
Auf dem Rücken eines Mannes sah ich einen Affen sitzen. Einen kleinen schwarzen Affen, der von einer Seite auf die andere huschte, kreischte und die Schultern seines Besitzers umklammerte. Ich sah Pick-ups, Pkws und Lastwagen. Mehr Fahrzeuge an einem Ort, als ich es je für möglich gehalten hätte. In Marial Bai waren an Markttagen zwei, höchstens drei Lastwagen zu sehen. Aber in Aweil kamen unaufhörlich Autos und Lastwagen an, manchmal ein Dutzend auf einmal, und ließen den Staub hinter sich aufwirbeln. Überall waren Soldaten, und sie waren sehr angespannt, beäugten argwöhnisch alle Neuankömmlinge, vor allem die jungen Männer.
Jeden Tag fand ein Angriff statt, eine Vernehmung. Männer wurden mit solcher Regelmäßigkeit in die Kaserne geschafft, dass jeder junge Dinka in Aweil damit rechnen musste, früher oder später einem Verhör unterzogen zu werden. Jeder, den es traf, wurde abgeholt und mehr oder weniger schwer geschlagen, bis er seinen Hass auf die SPLA beteuerte und Namen von mutmaßlichen Sympathisanten der Rebellen nannte. Noch am Nachmittag wurde er wieder freigelassen, und diejenigen, die er genannt hatte, wurden abgeholt und vernommen. Wenn man sich vom Markt fernhielt, wurde man nicht schikaniert, aber da die SPLA sich im Busch, in der Dunkelheit bewegte, unterstellte man den Leuten, die außerhalb der Stadt lebten, dass sie der SPLA angehörten, dass sie ihr halfen und von den Farmen und Wäldern aus Böses gegen Aweil im Schilde führten.
Obwohl mein Vater vorsichtig gewesen war, obwohl er die Soldaten gut behandelt hatte, dauerte es nicht lange, bis er in Verdacht geriet, mit den Rebellen unter einer Decke zu stecken.
– Deng Arou.
– Ja.
Zwei Soldaten standen in der Tür des Ladens meines Vaters.
– Bist du Deng Arou aus Marial Bai?
– Der bin ich. Das wisst ihr doch.
– Wir müssen diesen Laden schließen.
– Das kommt gar nicht infrage.
– Für heute jedenfalls. Du kannst wieder aufmachen, nachdem wir uns unterhalten haben.
– Worüber denn?
– Was machst du hier, Deng Arou? Wieso bist du aus Marial Bai weggegangen?
– Ich habe den Laden hier seit zehn Jahren. Ich habe das Recht –
– Du
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