Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Soldaten entging das nicht.
Und dann waren sie eines Tages alle weg. Marial Bai erwachte eines Morgens, und die Soldaten, die dazu da waren, das Dorf vor Überfällen zu schützen und den Frieden zu wahren, gab es nicht mehr. Ihre Habseligkeiten waren fort, ihre Lastwagen und jede noch so kleine Spur von ihnen. Sie verließen den Süden des Sudan und zogen in den Norden, und mit ihnen gingen viele der wohlhabenderen Familien von Marial Bai. Die Männer, die für die Regierung arbeiteten – als Richter, kleine Beamte, Steuereintreiber oder was auch immer –, nahmen ihre Familien mit nach Khartoum. Alle Familien, die es sich finanziell leisten konnten, zogen dorthin, wo sie es für sicherer hielten, in den Norden oder Osten oder Süden. Marial Bai und damit die gesamte Region Bahr al-Ghazal waren nicht mehr sicher.
An dem Tag, als die Soldaten verschwanden, gingen Moses und ich in ihre Kaserne, krochen unter ihre Betten und suchten nach Geld oder Souvenirs, nach irgendetwas, das sie vielleicht in der Hast vergessen hatten. Moses fand ein abgebrochenes Taschenmesser und behielt es. Ich fand einen Gürtel ohne Schnalle. Das Gebäude roch noch immer nach Männern, nach Tabak und Schweiß.
Kurz darauf packten die wenigen arabischen Händler, die noch auf dem Markt geblieben waren, ihre Ware zusammen und verschwanden. Binnen einer Woche wurde die Moschee geschlossen und drei Tage später niedergebrannt. Es gab keine Untersuchung. Nach dem Weggang der Soldaten wuchs eine Zeit lang die Zahl der Rebellen in Marial Bai, und schon bald gaben sie sich einen neuen Namen: Sudanese People’s Liberation Army , Sudanesische Volksbefreiungsarmee.
Doch nach wenigen Wochen waren auch sie verschwunden. Sie patrouillierten nicht durch Marial Bai, schützten es nicht. Sie kamen immer nur kurz, um Rekruten anzuwerben und sich aus dem Laden meines Vaters alles zu holen, was sie brauchten. Die Rebellen waren nicht da, als die Menschen von Marial Bai ernteten, was sie gesät hatten.
VII.
Michaels Telefon klingelt wieder.
Der Junge erhebt sich langsam und trottet in die Küche, um ranzugehen. Ich bekomme nicht viel von dem Gespräch mit, aber ich höre ihn sagen: »Du hast gesagt, zehn«, gefolgt von einer Reihe ähnlicher Beteuerungen.
Der Anruf dauert keine ganze Minute, und jetzt muss ich erneut versuchen, vernünftig mit dem Jungen zu reden. Vielleicht hat er sich inzwischen so weit an mich und meine reglose Anwesenheit gewöhnt, dass er meine Stimme nicht mehr fürchtet. Und es ist offensichtlich, dass er sich über seine Komplizen ärgert. Vielleicht kann ich mich irgendwie mit ihm verbünden, denn ich hoffe noch immer auf seine Einsicht, dass er und ich uns ähnlicher sind als er und diejenigen, die ihn in diese Lage gebracht haben.
»Junger Mann«, sage ich.
Er steht zwischen Küche und Wohnzimmer; er hat überlegt, ob er sich wieder zum Schlafen auf die Couch legen oder erneut den Fernseher anmachen sollte. Einen Moment lang habe ich seine Aufmerksamkeit. Er blickt kurz zu mir herüber und dann wieder weg.
»Ich möchte dir keine Angst machen. Ich weiß, es ist nicht deine Idee, hier bei mir zu sein.«
Jetzt starrt er auf das Telefonbuch, aber um es aufzuheben, müsste er natürlich ganz nah an mich ran, da es noch immer an meiner Schläfe lehnt. Er geht an mir vorbei und verschwindet den Flur hinunter Richtung Schlafzimmer. Meine Kehle wird trocken bei dem Gedanken, dass er am Ende doch mit dem Wörterbuch zurückkommen könnte.
»Junger Mann!«, sage ich, katapultiere meine Stimme den Flur hinunter. »Bitte lass nichts auf mich drauffallen! Ich bin auch still, wenn du das möchtest.«
Jetzt steht er über mir, und zum ersten Mal sieht er mir in die Augen. In der einen Hand hält er mein Geometriebuch und ein Handtuch in der anderen. Ich kann mich auf Anhieb nicht entscheiden, was die größere Gefahr darstellt. Das Handtuch – will er mich ersticken?
»Möchtest du, dass ich still bin? Ich bin still, wenn du aufhörst, Dinge auf mich drauffallen zu lassen.«
Er nickt mir zu, dann versucht er mit dem Fuß, das Klebeband wieder anzudrücken. Dass dieser Junge mir den Mund mit dem Fuß zuhält – das ist einfach unerträglich.
Er verschwindet aus meinem Gesichtsfeld, aber er ist noch nicht fertig. Als er zurückkommt, beginnt er ein kleines Bauprojekt in meinem Wohnzimmer.
Zuerst schiebt er den Couchtisch näher an das Regal mit Fernseher und Stereoanlage, verringert den Raum zwischen den drei Objekten: mir, dem
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