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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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abhält, und eine große, aber grobkörnige Aufnahme von seiner Schwester, die in Kairo lebt und in Restaurants putzt.
    Jetzt geht Michael den Flur entlang in mein Zimmer. Meine Tür quietscht nicht, macht nur ein schwaches Schlurfgeräusch, wenn sie über den Teppich gleitet. Ich höre, wie mein Schrank geöffnet wird, und kurz darauf, wie die Jalousien heruntergelassen werden. Ich weiß, dass er die beiden Bücher von meinem Nachttisch in die Hand genommen hat – Leben mit Vision. Wozu um alles in der Welt lebe ich? , von Pastor Rick Warren und Gebet. Quelle der Liebe , von Mutter Teresa und Frère Roger –, weil ich höre, wie sie nacheinander auf den Boden plumpsen. Ich höre die Bettfedern seufzen und dann verstummen. Er zieht die Schubladen meiner Kommode auf und schließt sie wieder.
    Michael ist ein neugieriger Junge, und dieses Herumstöbern lässt ihn mir menschlicher erscheinen. Meine Zuneigung zu ihm wächst wieder, und Vergebung tastet sich zurück in mein Herz.
    »Michael!«, platze ich heraus.
    Ich hatte nicht vor, seinen Namen zu rufen, aber jetzt ist es zu spät. Jetzt muss ich ihn erneut sagen und mich entscheiden, warum ich ihn sage.
    »Michael, ich habe einen Vorschlag für dich.«
    Es ist ganz still in meinem Zimmer. Ich höre keinen Laut.
    »Michael, es ist ein interessanter Vorschlag. Versprochen.«
    Er sagt nichts. Er verlässt mein Schlafzimmer nicht.
    Ich höre, wie meine Nachttischschublade aufgezogen wird. Mein Magen krampft sich zusammen, als mir klar wird, dass er die Bilder von Tabitha sehen wird. Er hat kein Recht, sie sich anzuschauen. Wie soll ich je vergessen, dass so ein kaputter Junge diese Bilder berührt hat? Diese Fotos sind viel zu wichtig für meine Ausgeglichenheit. Ich weiß, dass ich sie zu oft anschaue. Ich weiß, dass es selbstquälerisch zu sein scheint. Achor Achor hat mich deshalb schon ausgeschimpft. Aber sie trösten mich; sie bereiten mir keinen Schmerz.
    Es sind rund zehn Fotos, und die meisten sind mit der Kamera aufgenommen, die Michaels Gefährten gestohlen haben. Auf einem sieht man Tabitha mit ihren Brüdern auf einem Markt in Seattle, die vier halten zusammen einen riesigen Fisch hoch. Sie steht in der Mitte, und es ist unübersehbar, wie sehr die Brüder sie vergöttern. Ein anderes zeigt sie mit ihrer besten Freundin Veronica, die ebenfalls aus dem Sudan geflohen ist, und Veronicas Baby Matthew. Vor dem Baby – ein Kind, das in den Vereinigten Staaten geboren wurde – ist eine runde braune Masse zu sehen, Tabithas erster Versuch, einen Geburtstagskuchen im amerikanischen Stil zu backen. Das Gesicht des Babys ist mit Schokolade beschmiert, und Tabitha und Veronica grinsen, kneifen Matthew in beide Bäckchen. Sie wissen noch nicht, dass der Zucker von Matthews Schokoladenvöllerei ihn die nächsten zweiundzwanzig Stunden wach halten wird. Das beste Foto ist das, von dem sie dachte, ich hätte es auf ihr Drängen hin vernichtet. Sie ist in meinem Zimmer und trägt ihre Brille, und allein diese Tatsache macht das Bild zu einer Rarität, einem Einzelstück. Als ich es eines Abends aufnahm, ehe wir uns schlafen legten, war sie außer sich und sprach bis zum Mittag des folgenden Tages kein Wort mehr mit mir. »Wirf es weg!«, schrie sie, und dann verbesserte sie sich: »Verbrenn es!« Ich tat es, im Spülbecken, doch einige Tage später, nachdem sie wieder nach Seattle abgereist war, druckte ich es noch einmal von meiner Digitalkamera aus. Nur ganz wenige wissen, dass Tabitha Kontaktlinsen trug, und so gut wie niemand hatte sie mit Brille gesehen, die viel zu groß war, unelegant, die Gläser so dick wie eine Windschutzscheibe. Tabitha hatte sie immer neben dem Bett liegen, für den Fall, dass sie nachts zur Toilette musste. Aber ich fand es schön, wenn sie die Brille trug, und ich wollte, dass sie sie öfter aufsetzte. Mit diesem Riesengestell auf der Nase war sie nicht ganz so bezaubernd, und wenn sie die Brille trug, konnte ich mir irgendwie besser vorstellen, dass sie wirklich zu mir gehörte.
    Wir waren uns in Kakuma begegnet, in einem Hauswirtschaftskurs. Sie war drei Jahre jünger als ich, und sie war sehr intelligent, daher wurden wir nebeneinander gesetzt. Diesen Kurs mussten im Lager beide, sowohl junge Männer wie Frauen belegen, was die sudanesischen Ältesten mit großem Kopfschütteln quittierten. Männer, die Kochunterricht bekommen? Das fanden sie absurd. Doch die meisten von uns hatten nichts dagegen. Mir machte der Kurs großen Spaß, auch

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