Weit Gegangen: Roman (German Edition)
ich etliche Freundschaften geschlossen, aber am wichtigsten für mich ist vermutlich Allison, das einzige Kind von Anne und Gerald Newton.
Die Newtons waren die erste amerikanische Familie, die sich für mich interessierte, sogar noch vor Phil Mays. Ich war erst wenige Wochen im Land, als ich gebeten wurde, in einer Episkopalkirche einen Vortrag zu halten, und dabei lernte ich Anne kennen, eine Afroamerikanerin mit tränenförmigen Augen und kleinen kalten Händen. Sie fragte, ob sie mir helfen könne. Ich wusste nicht genau, wie, doch sie schlug vor, wir sollten beim Abendessen darüber reden, und so ging ich hin und aß mit Anne und Gerald und Allison. Sie waren eine wohlhabende Familie und wohnten in einem großen und behaglichen Haus, das sie für mich öffneten. Sie versprachen mir Zugang zu allem, was sie hatten. Allison war damals zwölf und ich war dreiundzwanzig, aber in mancherlei Hinsicht schienen wir gleichaltrig zu sein. Wir spielten Basketball in ihrer Einfahrt und fuhren Fahrrad, ganz so wie Kinder es tun, und sie erzählte mir von ihrer Unsicherheit wegen eines Jungen auf ihrer Schule namens Alessandro. Allison hatte eine Schwäche für Jungen italienischer Abstammung.
»Soll ich ihm vielleicht einen langen Brief schreiben?«, fragte sie mich eines Tages. »Mögen Jungen Briefe, oder fühlen sie sich durch zu viel Informationen, zu viel Begeisterung unter Druck gesetzt?«
Ich antwortete, eine kurze Mitteilung sei eine gute Idee, nur dürfe der Brief nicht zu lang sein.
»Aber dennoch, auch ein kurzer Brief hat etwas Endgültiges. Das kann ich nicht mehr zurücknehmen. Das Risiko ist wahnsinnig groß, findest du nicht, Valentino?«
Allison war und ist bis heute der intelligenteste junge Mensch, der mir je begegnet ist. Sie ist inzwischen siebzehn, doch schon mit zwölf war ihre Wortgewandtheit mitunter beängstigend. Damals wie heute kamen ihr die Worte stets in fehlerfreien Sätzen aus dem Mund, als seien sie vorher aufgeschrieben worden – mit leiser Stimme, ihre Lippen bewegten sich kaum. Ich würde gern sehen, wie sie mit Gleichaltrigen an ihrer Schule spricht, weil sie anders ist als alle Teenager, die ich je gekannt habe. Sie scheint mit dreizehn Jahren beschlossen zu haben, von nun an erwachsen zu sein, und wollte auch dementsprechend behandelt werden. Schon mit zwölf oder dreizehn war sie äußerst spießig gekleidet und trug eine Brille, und wenn sie das Haar straff nach hinten band, sah sie aus wie dreißig. Dennoch, pubertäre Albernheiten waren ihr nicht fremd. Allison war es, die mir beibrachte, wie ich die Geburtstage von Leuten in mein Handy einspeichern konnte, und danach fragte ich jeden, den ich kannte, nach seinem Geburtstag; es verwunderte mich selbst ein wenig, aber es machte mir großen Spaß, ein Spaß, der aus einem gewissen Ordnungssinn erwuchs. Schließlich gab Anne zu bedenken, dass ich in gewisser Weise selbst noch in der Pubertät steckte, weil man mich, wie sie es ausdrückte, meiner Kindheit beraubt hatte. Aber ich weiß nicht, ob das der Grund dafür ist, dass ich mich Allison so verbunden fühle – oder Mitleid mit diesem Michael habe.
Die Menschheit ist unterteilt in diejenigen, die die Welt noch immer mit den Augen der Jugend betrachten, und diejenigen, die das nicht können. Obwohl es mich oft schmerzt, fällt es mir doch leicht, mich in fast jeden Jungen zu versetzen, und ich kann meine eigene Jugend mit einer Leichtigkeit wiederaufleben lassen, die etwas Erschreckendes hat.
»Michael«, sage ich wieder und bin erstaunt, wie müde ich klinge.
Die Tür zu meinem Zimmer schließt sich. Ich bin hier, und er ist dort, basta.
An dem Morgen nachdem ich an dem Flugplatz vorbeigekommen war, nachdem ich ein paar Stunden im Geäst eines Baumes geschlafen hatte, erwachte ich und sah sie. Eine große Gruppe von Jungen, keine hundert Meter entfernt. Ich wartete, bis meine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, und sah dann wieder hin. Es waren rund dreißig, die da im Kreis saßen. Ein Mann stand bei ihnen und gestikulierte wild. Ich wusste, dass die Jungen Dinka waren, und sie rannten nicht, also kletterte ich von dem Baum herunter und ging zu der Gruppe. Es war schwer zu glauben, dass es eine solche Ansammlung wirklich gab. Als ich nah genug war, erkannte ich Dut Majok, den Lehrer der älteren Jungen in Marial Bai. Er schien nicht überrascht, mich zu sehen.
– Achak! Gut. Ich bin froh, dass du noch lebst. Jetzt bist du in Sicherheit. Hier sind noch andere
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