Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Mutter in Kakuma blieb, zogen Tabitha und ihre Brüder in eine Dreizimmerwohnung in Burien, einem Vorort von Seattle, und gingen alle gemeinsam zur Highschool. Tabitha war glücklich, entwickelte sich sehr schnell zur Amerikanerin. Ihr Englisch war amerikanisches Englisch, nicht das kenianische Englisch, das ich gelernt hatte. Nachdem sie ihren Abschluss gemacht hatte, konnte sie mit einem Stipendium der Bill and Melinda Gates Foundation an der University of Western Washington ein Studium aufnehmen.
Als ich fast zwei Jahre später endlich auch in die Vereinigten Staaten kam, hatte sie mich vergessen und ich sie. Natürlich nicht vollkommen, aber wir waren klug genug, uns nicht an solche Beziehungen zu klammern. Die Sudanesen aus Kakuma wurden auf die ganze Welt verteilt, und uns war klar, dass wir nicht selbst über unser Schicksal bestimmen konnten. Während ich mich in Atlanta einlebte, dachte ich kaum an Tabitha.
Eines Tages telefonierte ich mit einem der dreihundert Lost Boys, die mich regelmäßig anrufen, dieser lebte in Seattle. Im Südsudan war ein Waffenstillstand vereinbart worden, und er wollte meine Meinung dazu hören, weil er annahm, dass ich der SPLA nahestand. Ich war gerade dabei, den Irrtum aufzuklären und ihm verständlich zu machen, dass ich genauso viel wusste wie er oder sogar noch weniger, als er sagte: »Weißt du, wer hier ist?« Ich erwiderte, ich wüsste nicht, wer bei ihm sei. »Jemand, den du kennst, glaube ich«, sagte er. Er reichte den Hörer weiter, und ich erwartete eine andere Männerstimme zu hören, aber es war eine Frauenstimme. »Hallo, wer ist da? Hallo? Ist da eine Maus am anderen Ende?«, sagte sie. Was für eine Stimme! Tabitha war eine Frau geworden! Ihre Stimme klang tiefer und sehr erfahren, als fühlte sie sich ganz und gar wohl in der Welt. Bei einer Frau beeindruckt mich diese Art von gelassenem Selbstbewusstsein ungemein. Aber ich wusste, dass sie es war.
»Tabitha?«
»Aber ja, Kleiner«, sagte sie. Sie sprach fast wie eine Amerikanerin. In zwei Jahren auf der Highschool hatte sie viel gelernt. Wir plauderten ein paar Minuten über alles Mögliche, bis ich mit der Frage herausplatzte, die mir auf der Seele brannte.
»Hast du einen Freund?«
Ich musste es wissen.
»Aber ja, Schätzchen«, sagte sie. »Ich hab dich seit drei Jahren nicht gesehen.«
Wo hatte sie solche Worte gelernt, »Kleiner« und »Schätzchen«? Betörende Worte. An diesem Tag unterhielten wir uns etwa eine Stunde und etliche Stunden in der Woche darauf. Ich war enttäuscht, dass sie mit jemandem zusammen war, aber es überraschte mich nicht. Tabitha war eine erstaunliche Sudanesin, und es gibt nur wenige Sudanesinnen in den Vereinigten Staaten, die Single sind, vielleicht zweihundert, vielleicht noch weniger. Unter den mehreren Tausend Sudanesen, die mit der Luftbrücke für die Lost Boys nach Amerika kamen, waren nur neunundachtzig Frauen. Viele von ihnen haben bereits geheiratet, und die daraus resultierende Frauenknappheit macht vielen Männern wie mir das Leben schwer. Und wenn wir uns außerhalb der sudanesischen Gemeinde umschauen, was haben wir da zu bieten? Mit unserer Geldnot, der Kleidung von der Wohlfahrt, den kleinen Wohnungen, die wir mit zwei, drei anderen Flüchtlingen teilen, sind wir nicht gerade die begehrenswertesten Männer, zumindest noch nicht. Natürlich gibt es zahllose Beispiele dafür, dass auch wir die Liebe finden, ob die Frauen nun Afroamerikanerinnen sind, weiße Amerikanerinnen oder Europäerinnen. Doch im Großen und Ganzen suchen die sudanesischen Männer in Amerika nach sudanesischen Frauen, und das bedeutet für viele, zurück nach Kakuma zu gehen oder gar in den Südsudan.
Aber Tabitha, die hier in Amerika von so vielen umschwärmt wurde, entschied sich letzten Endes für mich.
»Michael, bitte«, sage ich.
Ich will ihn aus meinem Zimmer zurück in die Küche locken, wo ich ihn sehen kann und weiß, dass er nicht mit den Fotos allein ist.
»Ich muss mit dir reden. Ich denke, es könnte dich interessieren, mit mir zu reden.«
Es ist albern, mir einzubilden, dieser Junge würde mich verstehen. Aber junge Menschen sind sozusagen meine Spezialität. In Kakuma war ich mitverantwortlich für die Jugendarbeit im Camp und leitete die Freizeitaktivitäten für sechstausend junge Flüchtlinge. Ich arbeitete für das Büro des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge und organisierte Spiele, Sportveranstaltungen, Theaterprojekte. Seit meiner Ankunft in Amerika habe
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