Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Jungen aus deinem Dorf. Schau.
Ich sah mir den Mann, der mich mit Namen angesprochen hatte, genau an. Konnte das wirklich Dut Majok sein? Er zog ein flussgrünes Stück Papier aus seiner Tasche und schrieb etwas mit einem kleinen orangenen Stift darauf. Dann faltete er das Blatt zusammen und steckte es wieder ein.
– Wie bist du hergekommen?, fragte ich.
– Na ja, ich bin nicht verrückt, Achak. Ich habe gar nicht erst versucht, nach Khartoum zu gehen.
Er war wirklich Dut Majok, und er war gut gekleidet und sauber. Er sah aus wie ein Student oder als wolle er gleich eine wichtige Geschäftsreise antreten. Er trug eine saubere graue Baumwollhose und ein weißes Button-down-Hemd, er hatte Ledersandalen an den Füßen und einen weichen cremefarbenen Canvas-Hut auf dem Kopf.
Ich ließ den Blick über die Gruppe wandern, alles Jungen ungefähr in meinem Alter, manche älter, manche jünger, aber alle etwa gleich groß, und alle sahen sie hungrig aus und müde und unglücklich über mein Auftauchen. Ein paar hatten Beutel dabei, doch die meisten trugen nichts bei sich, genau wie ich, als seien sie nachts aus ihren Dörfern geflohen. Ich kannte keinen.
– Wir wollen nach Bilpam, sagte Dut. – Kennst du den Ort? Wir gehen nach Osten, nach Bilpam, dort seid ihr in Sicherheit. Wir werden eine Weile unterwegs sein, und dann bekommt ihr zu essen. Das sind Jungen wie du. Sie haben ihre Familie und ihre Heimat verloren. Sie brauchen einen Zufluchtsort. Verstehst du das Wort? Da gehen wir hin, mein Sohn. Nach Bilpam. Hab ich recht, Jungs?
Die Jungen blickten mürrisch zu Dut hoch.
– Und später, wenn das alles vorbei ist, kommt ihr wieder zurück zu euren Familien, in eure Dörfer. Was davon übrig ist. Etwas anderes können wir im Moment nicht tun.
Die Gruppe der Jungen schwieg.
– Sind alle so weit? Nehmt eure Sachen und dann geht’s los. Richtung Osten.
Ich ging mit ihnen. Ich hatte keine andere Wahl. Ich wollte nicht wieder allein durch die Nacht laufen und beschloss, dass ich einen Tag und eine Nacht bei ihnen bleiben und mir dann überlegen würde, wie es mit mir weitergehen sollte. Also marschierten wir los, der aufgehenden Sonne entgegen. Wir gingen paarweise oder allein, die meisten von uns hintereinander, und an jenem ersten Morgen gingen wir kraftvoll und zielbewusst – so, wie es nie wieder sein sollte. Wir gingen in der Annahme, dass die Wanderung bald vorbei sein würde. Wir wussten nichts über Bilpam oder den Krieg oder die Welt. Unterwegs erfuhr ich von den Jungen um mich herum, dass Dut in Khartoum zur Schule gegangen war und in Kairo Volkswirtschaft studiert hatte. Dut war der Einzige in unserer Gruppe, der älter war als sechzehn Jahre. Das Vertrauen, das die anderen Jungen in ihn setzten, schien unerschütterlich. Doch je weiter wir gingen, desto sicherer wurde ich mir, dass ich nicht in diese Gruppe hineinpasste. Diese Jungen waren überzeugt, dass ihre Familien getötet worden waren, und trotz allem, was der alte Mann und die stillende Frau im Licht des Feuers gesagt hatten, redete ich mir ein, dass meine Familie davongekommen war. Als der Nachmittag zu Ende ging, holte ich Dut ein.
– Dut?
– Ja, Achak. Hast du Hunger?
– Nein. Nein, danke.
– Gut. Weil wir nämlich nichts zu essen haben.
Er lächelte. Er fand sich oft selbst amüsant.
– Was gibt’s denn dann, Achak? Willst hier vorne mit mir gehen?
– Nein, danke. Ich komme ganz gut zurecht da hinten, am Ende.
– Okay. Weil ich dir gerade erklären wollte, dass nur diejenigen hier vorne mit mir gehen können, die ich ausgesucht habe. Und dich kenne ich noch nicht gut genug.
– Ja. Danke.
– Also, was hast du? Was kann ich für dich tun?
Ich wartete einen Moment ab, um sicherzugehen, dass er mir auch wirklich aufmerksam zuhörte.
– Ich gehe nur nach Marial Bai. Ich will nicht nach Bilpam.
– Marial Bai? Du hast Marial Bai doch vom Baum aus gesehen. Weißt du noch? In Marial Bai sind jetzt die Baggara zu Hause. Da ist nichts mehr. Keine Häuser, keine Dinka. Bloß Staub und Pferde und Blut. Du hast es gesehen. Da lebt keiner mehr – Achak, hör auf. Achak.
Er bemerkte etwas in meinem Gesicht. Ich war übermüdet, und ich vermute, dass ich in diesem Moment die volle Wucht der Ereignisse spürte. Die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit dessen, dass das, was den Toten in Marial Bai und den Familien all dieser mürrischen Jungen widerfahren war, auch meine eigene Familie betroffen hatte. Ich stellte sie mir
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