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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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alle vor, zerfetzt, durchbohrt, verkohlt. Ich sah meinen Vater aus einem Baum stürzen, schon tot, ehe er aufschlug. Ich hörte meine Mutter schreien, gefangen in unserem brennenden Haus.
    – Achak. Achak. Hör auf. Guck nicht so. Hör auf.
    Dut fasste mich an den Schultern. Seine Augen waren klein, versteckt unter einer Reihe sich überlappender Falten, als hätte er gelernt, nur geringste Lichtmengen hereinzulassen.
    – In dieser Gruppe wird nicht geweint, Achak. Siehst du irgendwen weinen? Keiner weint. Vielleicht lebt deine Familie noch. Viele haben diese Angriffe überlebt. Das weißt du. Du hast überlebt. Diese Jungen haben überlebt. Wahrscheinlich sind deine Mutter und dein Vater auf der Flucht. Vielleicht begegnen wir ihnen. Du weißt, dass das möglich ist. Alle sind auf der Flucht. Und wohin fliehen wir? Alle gehen dahin, wo die Sonne aufgeht. Da ist Bilpam. Wir gehen nach Bilpam, weil man mir gesagt hat, dass ein Haufen Jungen in Bilpam sicher ist. Deshalb sind wir unterwegs, du und ich und diese Jungen. Aber es gibt kein Marial Bai mehr. Falls du deine Eltern findest, dann nicht in Marial Bai. Hast du mich verstanden?
    Ich hatte verstanden.
    – Gut. Du bist ein guter Zuhörer, Achak. Du hörst zu und du hörst auf die Stimme der Vernunft. Das ist wichtig. Wenn ich mit jemandem vernünftig reden will, dann komme ich zu dir. Okay. Wir müssen weiter. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, bis es dunkel wird.
    Jetzt ging ich mit Zuversicht. Ich glaubte fest daran, mit einer Gruppe wie dieser würde ich meine Familie finden oder von ihr gefunden werden. Ich ging ziemlich am Ende einer Reihe von drei Dutzend Jungen, alle ungefähr in meinem Alter, nur eine Handvoll so alt, dass sie schon Haare unter den Achseln hatten. Ich hielt es für eine gute Idee, bei ihnen zu sein, bei so vielen Jungen und Dut, einem kompetenten Anführer. Ich fühlte mich sicher mit all den Jungen, von denen ein paar fast schon Männer waren, denn wenn die Araber kämen, könnten wir etwas gegen sie tun. So viele Jungen würden doch bestimmt etwas ausrichten können. Und wenn wir Gewehre hätten! Ich erwähnte Dut gegenüber, dass wir Gewehre bräuchten.
    – Das wäre gut, ja, sagte er. – Ich hatte mal ein Gewehr.
    – Hast du damit geschossen?
    – Ja, hab ich. Ich hab oft geschossen.
    – Können wir eins bekommen?
    – Ich weiß nicht, Achak. Da kommt man nicht leicht ran. Mal sehen. Ich denke, wir könnten auf Männer mit Gewehren stoßen, die uns helfen werden. Aber vorläufig sind wir geschützt, weil wir so viele sind. Unsere Zahl ist unsere Waffe.
    Ich war sicher, dass unsere Existenz, so viele Jungen, die in einer Kolonne gingen, sich herumsprechen würde und meine Eltern kommen würden, um mich zu holen. Das schien mir ganz logisch, und deshalb teilte ich meine Gedanken dem Jungen mit, der vor mir ging, einem Jungen, der Deng hieß. Deng war sehr klein für sein Alter, und sein Kopf wirkte zu groß für seinen schmächtigen Körper, an dem man die Rippen zählen konnte, die so zart wirkten wie die Knochen im Flügel eines Vogels. Ich erzählte Deng, dass wir sicherer sein würden und wahrscheinlich unsere Familien wiederfinden würden, wenn wir bei Dut blieben. Deng lachte.
    – Hatten die Araber Angst vor den Jungs in deinem Ort?, fragte er.
    – Nein.
    – Haben sie auf sie geschossen?
    – Ja.
    – Wieso glaubst du dann, dass die Araber sich fürchten werden, weil wir so viele sind? Sei nicht dumm. Sie haben keine Angst vor unseren Brüdern oder Vätern. Wenn sie uns finden, nehmen sie uns mit oder töten uns. Wir sind nicht sicherer, Achak, ganz im Gegenteil. Wir sind nie sicher. Niemand ist leichter zu töten als Jungs wie wir.
    Wie ich schon sagte, Michael, ich bin sicher, deine Geschichte ist traurig. Das will ich nicht bestreiten. Ich glaube nicht, dass der Mann und die Frau, die dich hier zurückgelassen haben, deine Eltern sind. Wo also sind dann deine Mutter und dein Vater? Es kann keine glückliche Geschichte sein. Aber du trägst Kleidung, und du bist wohl genährt, und du bist gesund und hast alle Zähne und bestimmt auch ein eigenes Bett.
    Doch diese Jungen waren nicht so gesegnet. Ich hörte nicht viele ihrer Geschichten, weil wir alle vermuteten, Ähnliches erlebt zu haben. Es interessierte uns nicht, noch mehr von Gewalt und Verlust zu hören. Ich werde dir nur Dengs Geschichte erzählen, das heißt Deng erlauben, sie dir so zu erzählen, wie er sie mir erzählte, während wir am frühen Abend durch

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