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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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hatten. Es gibt Sprachen, in denen man eines von, sagen wir, fünf oder zehn Wörtern versteht, und das reicht, um zu kapieren, was der andere von einem will. Wir hatten gar nichts.
    Ich stellte ihm eine Kanne heißes Wasser und eine lange Pinzette und Mullbinden und Karbolseife hin und verzog mich dann. Ich schloss die Tür ab, nur um auf Nummer sicher zu gehen.
    Die Bücher aus dem Leinensack stellte ich im Wohnzimmer ins untere Regal. Sie waren alle unterschiedlich groß und bildeten daher keine ordentliche Reihe wie die Bücher meiner Eltern. Einige davon waren Bilderbücher. Ich fragte mich, ob der Junge sie hatte lesen oder verbrennen wollen, aber eigentlich gab es darauf nur eine Antwort.
    Bei einem verbrannten Buch blutet mir immer ein bisschen das Herz.
     
    Jedes Mal, wenn ich eine Kugel verschoss, machte ich mir sofort fünf neue. Das war eine Zeit lang eine
eiserne Regel. Die Kugeln kamen mich ziemlich teuer, was die Zeit und den Brennstoff anbelangte, den es brauchte, um das Metall zu schmelzen. Es war nicht gerade wirtschaftlich, sie in so kleinen Mengen herzustellen.
    Der Gedanke dahinter aber war der: Man kann sich immer neuen Brennstoff suchen, wenn er ausgeht, Hartholz kleinhacken und Holzkohle herstellen – wenn’s sein muss, sogar das Pianola verbrennen – , aber man darf sich nie gehen lassen, darf nie nachlässig werden, und es darf einem nie die Munition ausgehen.
    Natürlich hat eine Kugel auch einen Preis, wenn du denn jemanden zum Handeln auftreibst. Aber nehmen wir an, es sucht jemand Streit mit dir, macht mit seiner Bande Jagd auf dich. Was ist dann eine Kugel wert? Wie viel, wenn dein Gewehr einfach nur klick macht?
    Außerdem mochte ich es einfach – was mit dem Metall passiert, wenn es zerschmilzt. Ich kauerte mich über den Tiegel und betrachtete die Flamme durch die rußgeschwärzten Linsen meines Vaters, während das Blei wie Quecksilber zerrann. Ich mochte die Verwandlung, und ich mochte die kalten Kugeln, die ich am nächsten Morgen aus dem Sand in den Gussschalen brach.
    Das Dumme war, dass meine Kugeln nicht allzu
sauber waren. Wenn ich wieder angeschossen werde, dann hoffentlich mit einer glatten, glänzenden Kugel aus Chirurgenstahl, nicht mit einer meiner hässlichen Dinger, die aussehen, als habe sie jemand auf dem Boden eines Hufschmieds fallen lassen, und die Gott weiß was für Keime und Dreck mit sich tragen.
    Nachdem ich meine fünf Kugeln gemacht hatte, brachte ich dem Jungen etwas Essen und Wasser und Feuer für den Nachttischbrenner. Man sah deutlich, dass er Fieber hatte. Die Augen zu, aber unter den Lidern zuckte es. Kurze, struppige schwarze Wimpern. Sein blauschwarzes Haar auf dem Kissen ließ mich an einen Krähenflügel denken. Er murmelte irgendetwas in seiner komischen Sprache.
    Der Nachttopf war leer, aber ich nahm seinen stinkenden blauen Einteiler mit. Wenn er durchkam, konnte er ein paar von Charlos alten Sachen haben.
     
    Beim ersten Tageslicht brachte ich ihm Frühstück.
    Seine Haut hatte überhaupt nichts Gelbes – sie war weiß wie Knochen. Feines schwarzes Haar vor den Ohren, aber kein Bart, der der Rede wert gewesen wäre.
    Er hatte alles aufgegessen, was ich ihm dagelassen hatte, aber als ich nach dem Nachttopf sah, machte er einen riesigen Aufstand. Er schämte sich. Da wusste
ich, dass ich ihn mögen würde: Ich hatte ihn fast umgebracht, aber dass ich seine Scheiße sah, war ihm peinlich. Wie Jungs eben so sind.
    Ich versuchte, ihm so gut es ging mit Gesten klarzumachen, dass er im Bett bleiben und sich ausruhen sollte. Er sah immer noch nicht allzu gut aus. Aber ich hatte kaum den Pferdestall ausgemistet, als er im Hof auftauchte. In Charlos Karojacke und Hausschuhen wirkte er noch jünger und kleiner. Er war ziemlich wacklig auf den Beinen, aber er schaffte es rüber zum Stall und sah dort zu, wie ich die Stute fütterte. Der Anblick des Pferds schien ihm zu gefallen.
    »Ma«, sagte er und zeigte auf die Stute.
    Ich versuchte, ihm zu erklären, dass ich Tieren nie Namen gab und sie einfach die Stute, den Roten, den Grauen und so weiter nannte. Es scheint mir nicht richtig, etwas einen Namen zu geben, das man eines Tages töten und essen wird, und man kriegt es leichter runter, wenn man es als simples Pferdefleisch sieht und nicht als Stück von Adamski oder von Daisy-May. Aber es war unmöglich, dem Jungen das klarzumachen, also war die Stute von nun an »Ma«.
    Dann zeigte er auf sich selbst, und das Wort, das er sagte, klang am ehesten

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