Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
mich darauf, zu reisen. Es gab Karibu-Hirten in den nördlichen Bergen, die ihr Fleisch gegen Whiskey tauschten. Das Problem war nur, dass ihre Weiden weitab und ziemlich hoch lagen, hinter meilenweise Sumpfland.
Im Sommer dauerte die Reise hin und zurück einen Monat, und selbst wenn ich es schaffte, wäre das Fleisch verdorben, ehe ich auch nur etwas davon nach Hause gebracht hätte. Und im Winter ließ ich das Haus nicht gerne so lange unbewacht – es waren jede Menge Hungerleider unterwegs.
Mit Ping im Haus jedoch lagen die Dinge anders. Ich konnte einen Schlitten mitnehmen und so viel Fleisch transportieren, wie draufpasste. Es bliebe tiefgekühlt, und Ping und ich könnten davon essen, bis es taute. Bei dem Gedanken an all das frische Fleisch lief mir das Wasser im Mund zusammen. Und auch Ping sah aus, als ob er das Eisen gut gebrauchen könnte. Sein Gesicht war ganz bleich und ausgezehrt.
Einmal die Woche, wenn er mit seiner Tanzerei
fertig war, nahm Ping immer mein Rasiermesser und schor sich den Kopf. Er hatte ein gutes Händchen, denn ich habe ihn sich nie dabei schneiden sehen. Kurz nachdem mir die Idee gekommen war, ging ich also zu ihm, wie er sich gerade rasierte, und beschrieb ihm mit einem Stück Holzkohle auf der weiß getünchten Wand der Vorratskammer, was ich vorhatte.
Dann spannte ich Ma vor den alten Schlitten und belud sie mit Whiskeyflaschen (wie ich an die gekommen bin, ist eine andere Geschichte). Ich packte ein Zelt und einen Schlafsack ein. In der Nacht, bevor ich aufbrach, aß ich so viel, dass ich zu schwitzen begann und mir der Magen wehtat. Und beim ersten Licht des Morgens brach ich auf und ritt den zugefrorenen Fluss entlang aus der Stadt.
Natürlich hatte ich Waffen und Munition und noch ein paar andere Kleinigkeiten dabei, und bevor ich losritt, zeigte ich Ping, wie man das Gewehr benutzt.
Am Flussufer standen einige schmutzige Zelte, und es stank nach schwelendem Abfall. Ich kam an einer dürren Frau vorbei, die am Stadtrand gefrorene Beeren sammelte. Sie war die erste, die ich seit längerem zu Gesicht bekam. Sie lächelte mich an und öffnete ihren Mantel, um mir ihre mageren Titten zu zeigen,
aber ich trieb die Stute an und machte, dass ich weiterkam.
Menschen sind so schlau wie Ratten und haben kein Problem damit, einen für ein warmes Essen kaltblütig zu erschießen. Das hat mich die Erfahrung gelehrt. Mit einem vollen Bauch, einer guten Ernte in der Scheune und einem Feuer im Herd sieht das allerdings ganz anders aus. Es gibt nichts Großzügigeres, Anständigeres als einen satten Menschen. Aber nimm ihm sein Essen weg, nimm ihm seine Zukunft und lass ihn dabei wissen, dass niemand ihm zusieht – und er wird dich nicht nur umbringen, er wird dir hundertundeinen Grund dafür nennen, warum du es auch verdient hast. Du hast ihn beleidigt. Du hast seine Frau schief angeguckt. Du wolltest ihm keine Axt leihen. Du hast mehr Land als er. Deine Bohnen wachsen und seine nicht. Und weißt du, was noch? Du hast ihm nie geschrieben, um dich für das warme Essen damals zu bedanken. Ich habe gehört, dass die Leute früher, als es noch richtige Gesetzeshüter und Richter und Prozesse gab und man sich verteidigen konnte, wenn man angeklagt war, gerne so etwas sagten wie: »Euer Ehren, ich habe in Notwehr gehandelt.« Aber alle handeln in Notwehr, so viel ist sicher. Der Mann, der dich skalpiert, die Typen, die deine Ernte verbrennen, der Bewaffnete, der dich von deiner billigen Taschenuhr befreit.
Auf dem Eis lag eine Schicht frischen Schnees, der den Hufen der Stute etwas Halt gab. Hin und wieder stieg ich ab und lief neben ihr. Am Flussufer gab es noch einige Überreste menschlicher Besiedlung – eine ausgebrannte Hütte, ein Holzkreuz auf einem Grab, ein paar eingestürzte Mauern –, aber dann kamen wir ins Hochland, und da waren nichts als Bäume, so weit das Auge reichte, und dahinter die Berge. Ist es nicht seltsam, dass wir nach so vielen Jahren nicht mehr hinterlassen haben?
Nachdem ich die letzten Reste der sogenannten Zivilisation hinter mir gelassen hatte, hob sich meine Stimmung. Und kurz vor Sonnenuntergang erlegte ich fürs Abendessen zwei Schneehühner. Das erste war ein sauberer Schuss, das zweite fiel, immer noch am Flattern, von seinem Ast, und ich gab ihm mit dem Stiefel den Todesstoß.
Am nächsten Morgen baute ich das Zelt ab, und noch vor dem ersten Licht waren wir schon wieder unterwegs. In der Dämmerung begannen meine Gedanken zu wandern.
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