Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
nicht zu den Stärken meiner Generation. Unsere Eltern und deren Eltern aber hatten eine Menge, worauf sie stolz sein konnten. Zum Beispiel dieses Ding – die Maserung im Ahornfurnier, und wie die Messingpedale verarbeitet sind. Dem Mann, der das gemacht hat, bedeutete
seine Arbeit etwas. Er hat dieses Pianola mit Liebe gebaut. Es steht mir nicht zu, es zu verbrennen.
Die Bücher haben alle meiner Familie gehört – Charlo und meine Ma waren die großen Leser –, mit Ausnahme des unteren Regals. Die habe ich selbst hergebracht.
Wenn ich Bücher finde, bringe ich sie normalerweise in eine alte Waffenkammer in der Delancey Road. Sie steht heute leer, aber in der Außentür ist so viel Stahl, dass man ein Pulverfass bräuchte, um ohne den Schlüssel an die Bücher zu kommen. Ich lese sie nicht selbst, aber es ist wichtig, sie für jemanden aufzuheben, der das tun wird. Wer weiß, vielleicht steht ja in einem von ihnen, wie man ein Pianola stimmt.
Jedenfalls, so habe ich die Bücher im unteren Regal gefunden: Eines Morgens gehe ich die Mercer Street hinunter. Es ist tiefer Winter. Überall Schnee, aber kein Wind, und der Atem der Stute steigt von den Nüstern auf wie Dampf von einem Kessel. An Tagen ohne Wind dämpft der Schnee alle Geräusche, und die Stille ist unheimlich. Nur das Knirschen der Hufe und diese kleinen Seufzer, die das Tier macht.
Dann plötzlich ein Krachen, und aus dem wohl letzten unzerbrochenen Fenster der gesamten Straße fällt ein ganzer Armvoll Bücher in den Schnee. Das Pferd bäumt sich erschrocken auf, und als ich es wieder
ruhig habe, sehe ich zum Fenster hoch, und was sagt man dazu: Da ist so ein kleiner Kerl, der sich in diesem Moment in die Bücher fallen lässt. Er ist in einen unförmigen blauen Einteiler und eine Pelzmütze eingepackt. Jetzt sammelt er die Bücher ein und will gerade abhauen.
Ich rufe zu ihm rüber: »Hey! Was treibst du da? Lass verdammt noch mal die Bücher in Frieden! Kannst du dir nicht was anderes zum Verfeuern suchen, gottverdammt?« Und noch ein paar ausgesuchte Flüche mehr.
Dann, genauso schnell, wie er aufgetaucht ist, wirft er den Armvoll Bücher fort und greift nach einer Pistole, und als Nächstes ist da ein Knall, und das Pferd bäumt sich wieder auf, und dann ist die ganze Straße noch leiser als zuvor.
Ich steige ab, ganz sachte, und gehe zu ihm. Meine Waffe ist gezogen, Rauch steigt noch von ihr auf. Ich bin immer noch ein bisschen aufgeputscht vom Ziehen, aber schon wird mir das Herz schwer, und ich weiß, dass ich diese Nacht kein Auge zukriegen werde, wenn er stirbt. Ich schäme mich.
Er rührt sich nicht, atmet aber ganz flach. Seine Mütze liegt ein paar Schritte neben ihm im Schnee, zwischen den Büchern. Er ist viel kleiner, als er gerade eben noch gewirkt hat. Und jetzt sehe ich, dass er ein Chinesenjunge ist. Und statt nach einer Pistole
hat er nach einem stumpfen Bowiemesser an seiner Hüfte gegriffen, mit dem selbst Käseschneiden schwierig wäre.
Reife Leistung, Makepeace.
Er kommt langsam zu sich, stöhnt vor Schmerz, versucht, mich von sich zu stoßen. »Lass mich nachschauen, wo du getroffen bist«, sage ich. »Ich kann dir helfen. Ich vertrete hier das Gesetz.« Aber seine Kleidung ist zu dick, als dass ich ihn untersuchen könnte, und es ist zu gefährlich, länger hierzubleiben, besonders bei Tag.
Es wird nicht sehr gemütlich werden, aber mir bleibt nichts anderes übrig, als ihn mitzunehmen. Besser auch noch die Bücher, damit die ganze Sache nicht umsonst gewesen ist. Ich stopfe sie in einen Leinensack. Der Junge wiegt fast gar nichts. Es bricht einem das Herz. Wie alt wird er sein? Vierzehn? Ich hebe ihn zu mir in den Sattel und wir reiten los, er mal wach, dann wieder weggetreten, bis wir endlich zu Hause sind.
Die gute Nachricht ist, dass er weiterhin atmet. Seine Arme greifen schwach nach meinen Schultern, als ich ihm absteigen helfe. Ich weiß, dass die Schmerzen für ihn noch nicht allzu schlimm sind – der Körper produziert sein eigenes Opium, wenn er getroffen wird. Aber das vertreibt nicht das Gefühl von Ungerechtigkeit, das ich empfinde. Dass man etwas
zerbrochen hat, was man nicht reparieren kann. Dass man nie mehr derselbe sein wird.
Jedenfalls, der Junge ließ mich nicht an sich heran. So sehr ich ihm auch klarzumachen versuchte, wie leid es mir tat, dass ich ihn verletzt hatte, und dass ich ihm helfen wollte – er schlug mir immer nur die Hand fort. Es war klar, dass wir keine gemeinsame Sprache
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