Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
Ich fragte mich, was Ping wohl gerade tat. Und ich dachte an mein Leben in dieser gottverdammten Stadt, an meine Arbeit, für die ich seit Jahren nicht mehr bezahlt wurde, die ich für Leute verrichtete, die fest entschlossen waren, einander so schnell wie möglich zur Hölle zu schicken,
und ich fragte mich, weshalb ich mich überhaupt noch damit aufhielt. Ich konnte sehr gut außerhalb der Stadt zurechtkommen. Ich brauchte nicht zu plündern oder Essen zu stehlen oder Menschen zu kidnappen, um am Leben zu bleiben. Ich ging das einige Male in Gedanken durch und kam zu dem Schluss, dass das Haus das Einzige war, was mich dort hielt – dass ich ein Stück der alten Zeit lebendig hielt, in der Hoffnung, Ma und Pa und Charlo und Anna würden eines Tages dorthin zurückkommen. Wie glücklich wir doch sind, wenn uns nicht klar ist, was wir für ein Glück haben. Nicht unter Verzweifelten zu leben. Lohn zu bekommen. Sich Sorgen wegen des Dachschiefers zu machen, oder weil das Brot nicht aufgeht. Ich dachte an die Frau am Fluss mit ihren kleinen Titten und zerbrochenen Zähnen. Was wohl aus ihr geworden wäre, hätten sich die Dinge anders entwickelt? Als sie auf die Welt kam, hat ihr Vater sicher nicht im Traum daran gedacht, dass sie einmal gefrorene Beeren pflücken und Fremden für Essen zu Diensten sein würde. Genau deshalb sage ich ja, dass wir in einer zerbrochenen Zeit leben.
Fünf Tage, bis ich die Berge erreichte.
Die Karibu-Hirten leben seit Tausenden von Jahren hier im Gebirge, lange, bevor irgendwelche Weißen kamen. Sie haben stets ein einfaches Leben geführt,
sind im Sommer den Herden hinauf zu den Weidegründen und im Winter wieder hinab gefolgt, und damit waren sie zufrieden.
Mein Vater zog es immer vor, seine Arbeit mit der Hand zu erledigen, auch wenn es genug Maschinen gab, die sie ihm hätten abnehmen können. Wir drängten ihn, neue Sachen zu kaufen, denn wie alle Kinder waren wir verliebt in das Neue, aber er ließ sich nicht reinreden. »Noch mehr, was schiefgehen kann … Noch etwas, das kaputtgeht …«
Je komplizierter etwas ist, desto übler geht es kaputt – da hatte er ganz bestimmt recht.
Die Karibu-Leute hielten die Dinge einfach. Folgten den Jahreszeiten, benutzten nie etwas, was sie nicht selbst wieder hinbekamen. Keine Motoren. Reite, iss, trage dasselbe Tier. Ich könnte nicht leben wie sie, nicht einmal für kurze Zeit. Ich schlafe einfach gern auf einer Federkernmatratze, zwischen Bettdecken, in einem Pyjama. Ich mag gemahlenes Mehl, wenn ich welches kriegen kann, und frisches Gemüse. Nach und nach jedoch hatte ich begonnen, mich für den letzten Vertreter meiner Art zu halten, und meine Kinder, wenn ich je welche habe, würden mehr wie die Karibu-Leute sein müssen, sollten sie wiederum auch Kinder haben wollen.
Früher waren die Karibu-Hirten auch Trapper, damals, als es noch Nachfrage nach Pelzen gab und sie
im Westen hohe Preise dafür erzielten. Die Winterstraßen waren belebt, Händler sind sie rauf und runter, sobald sie im November gefroren waren, so lange, bis sie wieder schmolzen. Jetzt war es hier gespenstisch leer, aber dort, wo der Fluss eine starke Krümmung machte, am Rande des Karibu-Lands, direkt auf jener Kuppe, die den gefrorenen Fluss überblickt, stand eine Hütte, und der Rauchwolke nach zu urteilen, die aus dem Blechrohr auf ihrem Dach kam, war sie bewohnt.
Vor der Hütte standen jede Menge halbfertige Schlitten aus Lärchenholz, ein riesiger Karibu, gehäutet und gefroren, baumelte vom Verandadach, und hinter der Hütte waren ein halbes Dutzend Häute zum Gerben auf einen Rahmen gespannt. Ein Hund kam aus einem kleinen Anbau gelaufen, zog seine Kette straff und bellte sich dumm und dämlich, als er meine Kufen über das Eis kratzen hörte.
Mit einem Knall wurde die Tür aufgestoßen, und ein großer Tungusen-Kerl winkte mir mit hoch erhobener Hand zu. Offenbar war er der Einzige in der Hütte – auf der Veranda hing nur eine Jacke.
Ich hatte ohnehin die Absicht, den Handel möglichst schnell abzuhaken, ohne weiter ins Gebirge vorzudringen als nötig, also passte mir das ganz gut.
Ich machte die Stute fest, und wir gingen in die Hütte. Innen war es schmutzig, aber warm, und allem
Anschein nach war die Hütte die Heimstatt von vier oder fünf Hirten, die bis auf meinen Gastgeber gerade alle draußen bei der Herde waren.
Der Tunguse machte Tee heiß und briet mir etwas Karibu-Fleisch, das nach der langen Reise wunderbar schmeckte, und dann kam
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