Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Jetzt halte ich auf den Winter zu. Das jedenfalls hat sich nicht geändert: Das Alter ist genauso kalt, wie es immer war.
    Und so werde ich alt und dünn und gebrechlich. Jedes Jahr muss ich den Waffengurt etwas enger schnallen, damit er noch auf meinen Hüften sitzt. Aber ich reite noch immer jeden Morgen aus – um den langsam verblassenden Kreis herum, der einst diese Stadt gewesen ist.
    Und ich bin noch immer gierig nach dem, was mir geblieben ist. Ich kann meine Augen jeden Tag
gar nicht früh genug öffnen, um dich zu sehen, mein Liebes.
     
    Seit langem bewegt sich nichts mehr auf dem Highway – abgesehen von den Staubteufeln in den Sommermonaten. Manchmal blicke ich darauf, auf dieses graue Band aus Beton, und frage mich, was aus all dem Leben wurde?
    Ich nehme an, dass das Lager inzwischen verschwunden ist. Es war absehbar, dass die Gefangenen sich früher oder später erheben würden. Man kann Menschen nicht einfach so lange mit Füßen treten, ohne irgendwann die Konsequenzen zu tragen.
    Und was geschieht nun?
    Sie haben die Wachen getötet, sind über die Frauen hergefallen, haben sich in der Wildnis verteilt, und ihr Nachwuchs – wenn sie es schaffen, welchen zu haben – endet wie diese getigerte Katze, die miauend um einen kalten Herd streift und beim Anblick eines Fremden flieht.
     
    Jedes Jahr ziehen die Kraniche nach Süden. Jedes Jahr erobert sich die Natur ein bisschen mehr zurück. Jedes Jahr tobt sich die Taiga in einem anderen Viertel der Stadt aus. Und mit jedem Jahr rückt der Tag deines Aufbruchs näher.

    Und wenn du dann fortgegangen bist, stelle ich es mir so vor: Fünf oder zehn Jahre später – oder auch früher, wenn ich Glück habe – wird mich an einem kalten Morgen das Pferd abwerfen oder der Ofen fängt Feuer, während ich schlafe, oder ich kippe einfach zwischen den Kohlköpfen um – ich werde früher aus der Puste sein als jetzt, und es ist harte Arbeit, diese Stängel abzuhacken. So gehe ich zu Boden, die Nase in den Dreck, und atme meinen letzten Atemzug.
    Ich habe keine Angst davor. Ich würde um keinen Preis wollen, dass du hierbleibst. Aber ich kann nicht zu lange über die Welt nachdenken, die ich dir vermacht habe, oder über die Kluft zwischen meiner Kindheit und deiner, sonst beginne ich, mich schuldig dafür zu fühlen.
    Ich dachte einmal, ich schreibe das alles hier, damit du es lesen kannst. Ich hatte vor, es dir zu geben, sauber abgeschrieben und die ganze Rechtschreibung mit Pas Wörterbuch überprüft. Jetzt aber erkenne ich, dass das Beste, was ich dir hinterlassen kann, dein eigenes, unbeschriebenes Blatt ist. Das hier kann bei den Büchern bleiben, die ich aufgehoben habe, so wie ein Erinnerungsstein oder wie eines der Stoffbänder, die die Tungusen zu Beginn oder am Ende einer Reise an einen Ast binden – als Gebet gegen das Verschwinden .

    Und wenn du bereit bist, von hier wegzugehen, nimm die Winchester und das schnellste Paar Pferde und geh. Lass es einen hellen Tag im Winter sein, da reist es sich am besten. Und bis der Wind sie verweht, werde ich vom Turm der Feuerwache auf die Spuren hinabblicken, die du auf den schneebedeckten Feldern des Nordens hinterlässt, und ich werde mir sagen:
    Ping ist auf ihrem Weg nach Hause.

Titel der englischen Originalausgabe
    FAR NORTH
    Deutsche Übersetzung von Oliver Plaschka
     
     
     
     
     
     
     
    Deutsche Erstausgabe 9/2011
    Redaktion: Alexander Martin
    Copyright © 2009 by Marcel Theroux
Copyright © 2011 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
    eISBN 978-3-641-07124-0
     
     
    Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
     
     
     
     
    www.heyne-magische-bestseller.de
    www.randomhouse.de