Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
Gesicht von einer winzigen Löwenmähne
gesäumt, der mich mit gebleckten Zähnen aus einer Weißbirke heraus anschnatterte.
Ich habe keine Ahnung, wie sie dahingekommen sind, aber irgendwie setzte sich in meinem Kopf die Idee fest, dass sie sich aus einer havarierten Arche gerettet hatten. Ich stellte mir das Schiff vor, entzweigebrochen oder irgendwo auf Grund gelaufen, und die Tiere, wie sie sich aus ihren Kisten befreiten – eine ganze Menagerie, die nach Norden kroch und hüpfte und der Spur der Flüsse folgte, die in die Kälte strömten.
Zum ersten Mal, so lange ich denken kann, fühlte ich mich zufrieden – ausnahmsweise war die Welt einmal nichts, gegen das man kämpfen musste.
Es regnete, als ich meine Stadt erreichte.
Ich hatte Glück, dass der Winter in diesem Jahr spät kam. Ich schuftete wie eine Verrückte, um noch etwas Essen in den Boden zu bekommen und ein Zimmer einzurichten. Als der erste Schnee fiel, war ich schon zu dick für den Morgenritt.
Es passierte, als ich gerade im Stall war. Ich blieb die ganze Zeit über auf den Beinen, hielt mich an einem Sattel fest und jagte den Pferden mit meinem Geschrei mächtig Angst ein. Es ging viel schneller als beim ersten Mal.
Kurz bevor ich vor Schmerz zusammenklappte, kam ein kleines Ding mit einem schwarzen Haarschopf
und dem dunklen Gesicht eines Tungusen herausgerutscht, ruderte stürmisch mit seinen Gliedern und stieß einen Laut aus, der mehr wie ein Maunzen als wie ein Schrei klang.
9
VOR KURZEM HABE ICH die Bücher gezählt, die ich in all den Jahren gerettet habe. Es sind zweitausendfünfundsiebzig in der Waffenkammer und einhundertsiebenundsiebzig im Haus. Ich habe auch sechzehn Kisten Kerzen gezählt, die ich in Charlos altem Schlafzimmer lagere. Sie sind zu einem Gros pro Kiste verpackt, und wenn man die Dochte kurz hält, brennen sie etwas mehr als zwei Stunden. Jede Kiste sind zwölf Tage durchgängiges Licht, und insgesamt reichen sie für mehr als sechs Monate.
Natürlich braucht man die Sommermonate über kaum Licht. Im Juni kann man noch Mitternacht ohne lesen. Wenn man denn liest. Ich kriege das ganze Jahr über Kopfschmerzen davon.
Eigentlich geht es mir bei den Kerzen um Folgendes: Schon bald werde ich wieder neue Kisten suchen müssen. Ich glaube, ich weiß, wo ich noch ein paar finden kann, aber eines Tages wird es keine mehr geben. Eines Tages werden die Kerzen alle weg sein und die Dochte und alle Gläser mit Spiritus, die
ich noch habe. Ich werde mich wie die Tschuktschen mit Tranlampen behelfen müssen – oder mich daran gewöhnen, im Dunkeln zu leben.
Es gibt in dieser Stadt kein Leben mehr zu leben.
Aber noch sind wir nicht die Letzten. Vor etwa einem Jahr sah ich Rauch aus dem Kamin des Velazquez-Hauses steigen. Zuerst machte es mir Angst, aber sie stellten sich als Fremde heraus, ein Mann und eine Frau mit einem etwa fünf Monate altem Kind.
Ich habe keine Ahnung, wie sie hierhergefunden haben, und er konnte es mir auch nicht sagen. Er ist Chinese oder vielleicht auch Koreaner. Sie sieht halb jakutisch, halb russisch aus.
Wir haben nichts miteinander zu tun, aber wir nicken uns zu, wenn wir uns treffen. Im Herbst legte ich ihnen etwas Kohl und Tigerbalsam auf die Veranda. Und sie legten mir etwas Kimchi hin.
Der letzte Winter war hart, so hart wie die meiner Kindheit, aber ich weiß, dass sie ihn überstanden haben, denn Ende März sah ich ihn Eisblöcke vom See holen. Sie oder das Kind habe ich allerdings schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.
Wenn es gut für sie läuft, finden sie hier vielleicht dauerhaft Unterschlupf, bauen sich ein Leben auf, haben ein weiteres Kind. Aber ich gebe ihnen nicht mehr als fünfzig Prozent. So ist das eben.
Seit meinem fünfzehnten Lebensjahr habe ich mit angesehen, wie die Welt, die ich kannte, vor die Hunde ging. Das Einzige, das sich so benimmt, wie es sollte, ist der halbe Morgen Gemüse hinter meinem Haus, und selbst der ist launisch geworden, seit die Jahreszeiten sich verschoben haben.
Die Zeit läuft mir davon. Ich schätze, ich könnte noch immer von hier fortgehen, wenn ich wollte. Noch einmal versuchen, nach Süden zu gehen oder ein Schiff zu finden, das mich nach Amerika bringt. Aber ich glaube nicht, dass ich das tun werde – jetzt, da ich weiß, was ich weiß. Es gibt für mich keinen Weg zurück.
Das Flugzeug, in dem ich damals flog, war das letzte, das ich jemals sah.
Diese Jahre, über die ich geschrieben habe, waren der Herbst meines Lebens.
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