Weit weg im Outback: Unser Leben in Australien (German Edition)
zurückzieht, ist meine Maske weg. Mit beiden Händen halte ich das Mundstück fest. »Wenn ich es verliere, ertrinke ich«, denke ich. Zwischen den Wellen vergehen jeweils etwa 30 Sekunden, gerade genug Zeit, um das Mundstück zu entfernen und kurz zu atmen. Dann drückt mich die Wucht der nächsten Welle wieder unter Wasser.
Ich habe Angst, von der nächsten großen Welle herausgewuchtet und gegen die Felsen geschmettert zu werden. Aber eigentlich sitze ich hier fest. Mit dem schweren Tank auf dem Rücken, dem Bleigurt und dem Rest der Ausrüstung habe ich keine Chance, der Wellenwalze zu entkommen. Und die Ausrüstung auszuziehen, ist keine Option. Sie wirkt wie eine Art Anker. Die nächste Welle würde mich mitreißen. So liege ich einfach da, hilflos wie ein gestrandeter Wal. Ich schnappe nach Luft, wenn kurz kein Wasser über mir ist, und sauge an meinem Mundstück, wenn die nächste Welle über mir bricht. Mein Gehirn läuft auf Hochtouren. Ich habe viel über Menschen gelesen, die dem Tod in die Augen gesehen haben. Diese Geschichten von der plötzlichen inneren Ruhe und Wärme, die einen überfallen sollen. Oder die Bilder des Lebens, die einem in Sekunden vor dem geistigen Auge vorbeirasen. Traurigkeit, Euphorie oder Resignation, Angst oder gar Panik. Nichts davon. Ich liege nur da und frage mich, ob’s das jetzt wirklich gewesen sei. »Jetzt bin ich hier, in einem wunderschönen Land, mit der besten Frau der Welt, und lebe einen Traum«, denke ich. Ich sehe Christine vor mir, den Glanz ihrer blauen Augen. Ich höre ihr Lachen.
Plötzlich überfällt mich eine Wut, wie ich sie bisher in meinem Leben kaum je gespürt habe. »Eher zerschmettere ich an den Klippen, als dass ich hier einfach ersaufe«, schießt es mir durch den Kopf. Ich habe nur dreißig Sekunden Zeit, bis die nächste Welle kommt. Ich wuchte mich hoch, versuche, mich am Felsen festzuklammern. Doch die schmierigen Algen machen es fast unmöglich, am Gestein Halt zu finden. Ich rutsche ab. An den messerscharfen Schalen der Seepocken, die den Felsen bedecken, schneide ich mir die Handschuhe auf. Dann kommt die nächste Welle. Sie packt mich und wirft mich in die Delle zurück – als ob das Schicksal beschlossen hätte, dass dieser Felsen mein Grab sein soll. Mit beiden Händen halte ich mein Mundstück fest. Nach zwei weiteren Wellen versuche ich es noch mal. Und noch mal. Endlich, nach drei weiteren Versuchen gelingt es mir, mich an der Spitze eines Felsens festzuhalten, bevor die nächste Welle über mir zusammenbricht. Wie aus tausend Kübeln gleichzeitig prasselt das Wasser auf mich ein. Doch ich halte mich fest. Die Pause bis zur nächsten Welle nutze ich, um mich hinter einen anderen, größeren Felsen zu schleppen. Außer Atem, komplett erschöpft, setze ich mich hin. Ich habe es geschafft.
Wo ist Mario?
Die Panik, die mich überkommt, werde ich nie vergessen. Ich werfe meine Luftflasche ab, den Bleigurt und springe von einem Felsen auf den andern. Der Gedanke, meinen Kumpel verloren zu haben, erfüllt mich mit Horror. Ich überlege mir bereits, wie ich Vanessa den Tod ihres Vaters erklären werde, als ich Mario zwischen zwei mächtigen Felsen in einer Spalte liegen sehe. Er lebt. Und wie. »Verdammte Scheiße«, sagt er, »das war knapp.« Ein paar Flüche auf Italienisch. Ich helfe ihm auf die Beine. Er blutet heftig. Er hatte keine Handschuhe an. Die Seepocken und Muscheln an den Felsen haben ihm die Finger zerschnitten.
Langsam arbeiten wir uns auf die Klippe. Als wir zwischen zwei mächtigen Felsen hochklettern und endlich auf sicherem Boden stehen, schauen uns die Angler ungläubig an. »Geht’s euch gut?«, fragt einer. Zurück am Fahrzeug, verbinde ich Marios Hände. Wir sprechen nicht viel. Ein letzter Blick von der Klippe hinunter aufs Meer. Mit Wucht donnern die Wellen gegen die Felsen. Wir können kaum glauben, dass wir es geschafft haben, zu entkommen. Die australische Natur ist einzigartig, faszinierend, schön. Aber Fehler vergibt sie selten.
Als ich nach Hause komme, schaut mich Christine an, wie den Geist, der ich beinahe geworden wäre. »Was ist denn mit dir los?«, fragt sie erschrocken. »Du bist kreideblass.« Ich erzähle die ganze Geschichte. Christine greift nach meinen Händen. »Da bin ich ja froh, dass du noch lebst«, meint sie trocken. »Denn ich brauche dich mehr als je zuvor.« Sie atmet kurz durch. » Wir brauchen dich mehr denn je.« Und sie legt meine Hand auf ihren Bauch.
KAPITEL 5
Nichts
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