Weit weg im Outback: Unser Leben in Australien (German Edition)
Fernseher zu verfolgen. Er würde von den Gewerkschaften geteert und von den Medien gefedert. Einmal hatte ich vergessen, welcher Tag war, und rief in totaler Ignoranz während des Rennens einen Börsenbroker in Sydney an. Ich benötigte eine Stellungnahme zur Entwicklung einer Aktie. Die Empörung des Brokers über meine Frechheit, ihn in diesem »wichtigsten Moment des Jahres« anzurufen, hallt bis heute nach. Es sei völlig »unaustralisch«, diesen »für uns heiligen Moment« zu stören, meinte er und legte auf.
Auf der Pferderennbahn Flemington gehe ich erst mal in die Ställe. David Hall streichelt der Stute »Tennessee Madness« zärtlich über das braune Fell. Das Tier ist eines von mehreren Dutzend Rennpferden im Gestüt des Spitzentrainers. Für 100 Euro am Tag füttert und trainiert er die Tiere für ihre Besitzer. »Es sind in der Regel reiche Geschäftsleute, die sich hier ein Pferd halten«, erzählt mir Hall, während er einen blauen Futtersack zurechtrückt, dessen Inhalt in puncto Qualität und Preis mit jedem organischen Frühstücksmüsli mithalten könnte. Rennpferde sind teure Investitionen: »Tennessee Madness« wäre für eine halbe Million Euro zu haben. Der Besitzer wird allerdings nicht verkaufen wollen. Er hofft auf den größten Triumph, den Sieg des Melbourne Cups.
Doug und ich haben, wovon die meisten »Punter«, wie man die Spieler nennt, nur träumen können. Als Mediengäste des Bundesstaates Victoria haben wir eine Einladung ins Marquee erhalten. Statt uns mit Hunderttausenden von Zuschauern auf den Tribünen drängeln zu müssen, dürfen wir in die VIP-Zone. Bewacht von einer halben Armee von Sicherheitsleuten, abgeschirmt vom Pöbel, kann man es sich hier gutgehen lassen. Hier unterhalten Unternehmen ihre besten Kunden bei Kaviarhäppchen und Dom Pérignon, für 3000 Euro Eintrittsgebühr pro Kopf. Man trinkt in riesigen Zelten, und dann, wenn die Stunde der Wahrheit kommt, geht’s zum Zaun, um die Pferde beim Galopp zu sehen.
Doch bereits vor dem Eingang des Stadions befinden wir uns in einer Art parallelem Universum. Frauen mit riesigen Hüten und viel zu engen Kleidern kommen uns entgegen. Viele Monate vor dem Melbourne Cup nehmen australische Hutmacher Aufträge für die verrücktesten Hut-Entwürfe an. Echte Früchte in einem Bastkorb, Pfauenfedern, sogar ein Spanferkel, noch am Spieß – es gibt nichts, was die Frauen beim Melbourne Cup nicht auf ihrem Kopf tragen würden. Dagegen sind die Männer in beige-schwarzen Nadelstreifenanzügen mit Perlennadel in der Krawatte und Rose im Knopfloch geradezu dezent gekleidet. Obwohl es erst elf Uhr früh ist, torkeln uns vom Haupteingang ein paar völlig betrunkene Frauen entgegen. »Um Gottes willen«, seufzt Doug, der Asket. Eine junge Blonde, in knallrotem Minidress, barfuß und die High Heels in der linken Hand, torkelt auf ihn zu und fällt ihm in die Arme. »Hallo, mein Liebster«, lallt sie und greift dem bedauernswerten Kollegen zwischen die Beine. Er versucht, sich aus dem Klammergriff der Frau zu befreien. Sein Kopf ist knallrot. »Bloß weg von hier«, zischt er.
Im Marquee geht es um einiges zivilisierter zu. Armani statt Anzüge aus dem Kaufhaus. Hier trifft man Prominente, mit denen man sonst kaum je sprechen könnte. Doug und ich beginnen zu zählen. Wir sehen vier australische Filmstars, drei ehemalige Premierminister, sechs Minister, die Chefs der vier größten australischen Unternehmen und natürlich Sportstars. »Hi Warnie«, ruft ein Gast dem legendären Cricketspieler Shane Warne zu, als er mit seiner neusten Eroberung Liz Hurley vorbeistolziert. »Warnie« dürfte das Model nicht mit seiner Intelligenz beeindruckt haben. Wie viele Spitzensportler hatte er in seiner Jugend wenig Zeit für Schulbildung, und wie viele Sporthelden ist er stolz darauf, es nur dank seiner Muskeln zum Millionär gebracht zu haben. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie ein Buch gelesen«, sagte er einmal.
Doug und ich haben genug von diesem Zirkus. Wir kämpfen uns durch Horden von Betrunkenen zum Ausgang, schnappen uns ein Taxi zum Airport und fliegen nach Hause.
Ein paar Tage später, in Sydney, treffe ich Callum. Der 42-Jährige ist Krisenberater bei einer Organisation, die sich auf Hilfe für Spielsüchtige spezialisiert. Ein Mann mit einem Gesicht wie ein Auto nach einer Frontalkollision, gezeichnet von Jahren des Alkoholmissbrauchs. »Aber ich bin jetzt okay«, meint er. Vor zwei Jahren stand er »an der
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