Weit weg im Outback: Unser Leben in Australien (German Edition)
direkt neben der Stadt. »Es war ein Ort, den früher nur eingeweihte Mitglieder des Clans sehen durften, ein Berg mit großer religiöser, mythologischer Bedeutung für die Aborigines«, sagt Linda. Doch die Bewohner von Greentown kümmerte das nicht. Mit Spitzhacken schlugen sie den Felsen ab und transportierten das Gestein in ihren Schubkarren auf den Berg. Dort bauten sie einen Turm. »War Memorial« heißt das Gebäude, eine Art viereckiger Leuchtturm. Jede Nacht sollte der Strahl eines starken Scheinwerfers die Menschen von Greentown daran erinnern, welche Opfer die jungen Männer aus ihrer Mitte gebracht haben, die in den Weltkriegen gefallen sind. Für mich hat das Mahnmal eine andere Bedeutung. Wann immer ich am Abend das Licht des Kriegsdenkmals kreisen sehe, denke ich an die Missachtung der Wünsche einer einst stolzen Kultur, an ihre Entwürdigung, die bis heute anhält.
In Greentown treffe ich Ray. Wenn der Mann lacht, schaut man in eine gähnende Leere. Entweder hat er Angst vorm Zahnarzt, oder er ist einer von Tausenden von Australiern, die es sich nicht leisten können, zum Zahnarzt zu gehen. Eine Versicherung für Zahnbehandlung kostet ein Vermögen, und das öffentliche System ist so überladen, die Warteschlangen so lang, dass zähe Leute wie Ray sich den schmerzenden Zahn oft lieber selbst ziehen, bevor der Doktor Gelegenheit hat, zum Bohrer zu greifen. Ich habe selbst in armen Gegenden Asiens und Afrikas nicht so viele Menschen mit Zahnlücken gesehen wie im ländlichen Australien.
Aber ein harter Arbeiter braucht schließlich keine Zähne. Etwa sechzig und fit wie ein Olympiasprinter sei er, »genau der Mann, den du brauchst. Zuverlässig und exakt«, sagt David, der schwergewichtige Verkäufer von »qualitativ hochwertigen Gebäuden für die Landwirtschaft«, wie seine Visitenkarte sagt, über Ray. In Greentown, wie eigentlich überall auf dem Land, laufen alle Jobs über Empfehlungen. »Klar, mach ich gerne«, sagt Ray. So engagieren wir den besten Shed-Bauer in Greentown.
Wir wagen einen großen Schritt: Wir stellen zum ersten Mal etwas auf unser Grundstück, das wir nicht einfach verkaufen können, an ein Auto hängen oder auf einen Laster laden, wenn wir es uns plötzlich anders überlegen sollten. Oder wenn uns das Heimweh überkommen sollte und wir nach Europa zurückkehren wollen.
Ein Shed ist – wenn man das Wort korrekt übersetzt – ein Schuppen, eine Scheune, ein Verschlag sogar. In unserem Fall soll es mehr sein als ein Schuppen: ein kleines Häuschen, ein Cottage, in dem wir leben wollen. Wir haben uns entschieden, unser Haus in Campbelltown zu verkaufen und aufs Land zu ziehen. Zumindest probeweise.
»Stahl, alles guter australischer Stahl«, sagt David. Das Shed ist – nach dem Starpicket – das zweite heimliche Symbol Australiens. Es gibt kaum ein Grundstück in Australien, auf dem nicht ein solches Gebäude steht. In den frühen Jahren des modernen Australiens waren Sheds die erste Form von dauerhafter Unterkunft, die sich viele Menschen leisten konnten.
Heute leben Australier in der Regel nur für begrenzte Zeit in einem Shed, etwa bis das Haus fertig ist, das sie daneben bauen. Oder wenn die Frau sie aus dem Haus geworfen hat. Die meisten Sheds aber dienen vor allem einem Zweck: als Rückzugszone für Männer. Eine kleine Garage mit zwei Kühlschränken, wie Mick sie hat, oder ein Riesengebäude für die Maschinen und die Werkstatt, wie es mein Nachbar Bill gebaut hat. Bill und Helene leben auf dem nächsten Grundstück. Sie haben sich dort ihren Lebenstraum verwirklicht. Nach Jahrzehnten in der Stadt sind sie im Alter von 55 Jahren aufs Land gezogen. Helene konnte ihre Liebe für Tiere endlich ausleben. Sie hat drei Pferde und eine ganze Herde von Rindern, die sie als Kälber aufgelesen hatte und hochpäppelte. Heute führen die zu schweren Rindviechern herangewachsenen Tiere auf Bills und Helenes Weide ein paradiesisches Dasein. Nie im Leben würde es Helene in den Sinn kommen, die Tiere zu Rumpsteak und Hackfleisch zu verarbeiten.
Bill wurde es schon wenige Monate nach der Ankunft in Greentown langweilig. Er nahm den ersten Job an, den es gab. Er wurde Gefängniswärter im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses von Greentown. Hier sind die gefährlichsten Verbrecher des Bundesstaates eingesperrt. Diejenigen Täter, die als besonders ausbruchsgefährdet oder gewalttätig gelten, werden in einen »Knast im Knast« eingesperrt, ein Sicherheitstrakt im
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