Weit wie das Meer
heraus. »Möchten Sie schon etwas trinken?«
»Gern«, sagte sie. Ihre Hände glitten über die Wände und fühlten die Struktur des Holzes.
»Was hätten Sie lieber - Cola oder Mineralwasser?«
»Mineralwasser.«
Er reichte ihr die Dose, und ihre Hände berührten sich kurz.
»Ich habe kein Eis an Bord, aber es müßte kalt genug sein.«
»Ich werd’s schon runterkriegen«, sagte sie, und er lächelte.
Sie öffnete die Dose und nahm einen Schluck, bevor sie sie auf den Tisch stellte.
Während Garrett seine Cola-Dose öffnete, sah er Theresa an und dachte an das, was sie ihm zuvor anvertraut hatte. Sie hatte einen zwölfjährigen Sohn… und war Kolumnistin, was hieß, daß sie studiert haben mußte. Wenn sie bis zu ihrem Abschluß gewartet hatte, um zu heiraten und ein Kind zu bekommen, mußte sie vier oder fünf Jahre älter sein als er. Sie sah nicht so alt aus - das war gewiß -, andererseits benahm sie sich nicht wie die meisten Frauen in den Zwanzigern, die er hier in der Stadt kannte. Sie besaß eine Reife, die nur ein Mensch haben konnte, der die Höhen und Tiefen des Lebens kannte.
Nicht daß es ihm wichtig gewesen wäre.
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf ein Foto, das an der Wand hing. Garrett Blake war darauf zu sehen - sehr viel jünger als heute -, mit einem riesigen Marlin, den er gefangen hatte. Auf dem Foto strahlte er über das ganze Gesicht, und dieser glückliche Ausdruck erinnerte sie an Kevin, wenn er beim Fußball ein Tor geschossen hatte.
»Sie fischen wohl gern«, sagte sie in das Schweigen hinein und deutete auf das Foto. Er kam auf sie zu, und als er neben ihr stand, spürte sie die Wärme seines Körpers. Er roch nach Salz und Wind.
»Ja, das stimmt«, sagte er ruhig. »Mein Vater war Garnelenfischer, und ich bin sozusagen auf dem Wasser aufgewachsen.«
»Wann wurde dieses Foto aufgenommen?«
»Vor etwa zehn Jahren - das heißt in den Semesterferien vor meinem letzten Studienjahr. Es gab ein Wettfischen, und mein Vater und ich beschlossen, zwei Nächte auf hoher See zu bleiben. Dabei haben wir diesen Marlin gefangen, etwa sechzig Seemeilen vor der Küste. Wir brauchten sieben Stunden, um ihn nach Hause zu schleppen, weil mein Vater mir beibringen wollte, es auf die traditionelle Weise zu tun.«
»Das heißt?«
Er lachte leise. »Das heißt im wesentlichen, daß meine Hände am Ende völlig zerschnitten waren und daß ich meine Schultern am nächsten Tag kaum mehr bewegen konnte. Die Leine, an der unser Marlin hing, war eigentlich nicht stark genug für einen Fisch dieser Größe, und so mußten wir ihn bis ans Ende der Leine laufenlassen, langsam wieder einholen, dann wieder laufenlassen, bis er zu erschöpft war, um weiterzukämpfen.«
»Wie in Hemingways Der alte Mann und das Meer.«
»Ja, so ähnlich, nur daß ich mich erst am nächsten Tag wie ein alter Mann gefühlt habe. Aber ich glaube, mein Vater hätte die Rolle im Film spielen können.«
Sie betrachtete erneut das Foto. »Ist das Ihr Vater neben Ihnen?«
»Ja.«
»Er sieht Ihnen sehr ähnlich«, sagte sie, und Garrett fragte sich, ob das als Kompliment gemeint war oder nicht. Er trat an den Tisch, und Theresa nahm ihm gegenüber Platz.
»Sie sagten, Sie sind aufs College gegangen?«
Er sah sie an. »Ja, ich habe Meeresbiologie studiert. Etwas anderes hat mich nicht interessiert, und da mein Dad gesagt hat, ohne Diplom brauche ich nicht nach Hause zu kommen, nahm ich mir vor, etwas zu lernen, das ich später im Leben gebrauchen könnte.«
»Und dann haben Sie den Laden gekauft…«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, das heißt, nicht sofort. Nach dem Diplom habe ich zunächst am Duke Marine Institute als Tauchspezialist gearbeitet, aber der Job war zu schlecht bezahlt. Also hab ich mich zum Tauchlehrer ausbilden lassen und an Wochenenden Unterricht gegeben. Der Laden kam erst ein paar Jahre später.« Er hob eine Braue. »Und Sie?«
Theresa nahm einen Schluck aus ihrer Dose, bevor sie antwortete.
»Mein Leben war bei weitem nicht so aufregend wie Ihres. Ich bin in Omaha, Nebraska, aufgewachsen und habe die Brown University besucht. Nach meinem Abschluß habe ich alle möglichen Jobs ausprobiert, bis ich schließlich in Boston hängengeblieben bin. Ich bin jetzt neun Jahre bei der Boston Times, arbeite allerdings erst seit zwei Jahren als Kolumnistin. Vorher war ich Reporterin.«
»Und wie gefällt Ihnen der Job als Kolumnistin?«
Sie dachte nach, als würde sie sich zum ersten Mal Gedanken über
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