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Weiter weg

Weiter weg

Titel: Weiter weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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sie für Henny wie eine unerträgliche Zweitausfertigung von Sam erscheinen lässt («Sie kriecht, ich kann sie kaum berühren, sie stinkt nach Schmutz und Schleim – sie merkt es nicht einmal!»). Louie versucht unentwegt, sich nicht in die krank machenden Spiele ihres Vaters hineinziehen zu lassen, aber weil sie noch ein Kind ist und weil sie ihn liebt und weil er eben wirklich unwiderstehlich ist, demütigt sie sich immer wieder selbst, indem sie kapituliert.
    Zunehmend deutlich jedoch erweist sich Louie als Sams wahre Nemesis. Sie beginnt, ihn auf dem Feld der gesprochenen Sprache herauszufordern, etwa in der Szene, in der er über die harmonische Einheit der künftigen Menschheit referiert:
    «Mein System», fuhr Sam fort, «das ich selbst erfunden habe, könnte Monomann oder Allmenschheit heißen!»
    Evie [Sams jüngere Lieblingstochter] lachte verlegen, unsicher, ob es richtig war. Louisa sagte: «Du meinst wohl Monomanie.»
    Evie kicherte und wurde dann plötzlich blass, entsetzt über sich selbst.
    Sam sagte kühl: «Wenn du so guckst, Lulu, siehst du wie eine Ratte aus der letzten Gosse aus. Monomann ist der Zustand, den die Welt erlangt, nachdem alle degenerierten Sonderlinge ausgemerzt sind.» Seine Stimme bekam etwas Bedrohliches.
    Als sie später in die Pubertät kommt, führt Louie Tagebuch, notiert aber keine wissenschaftlichen Beobachtungen (wie Sam es vorgeschlagen hat), sondern verdeckte, kunstvoll verschlüsselte Anschuldigungen an ihren Vater. Als sie sich in eine ihrer Lehrerinnen, Miss Aiden, verliebt, macht sie sich daran, den sogenannten Aiden-Zyklus zu verfassen, eine Reihe von Gedichten an Miss Aiden in «jeder denkbaren Form und jedem denkbaren Metrum» der englischen Sprache. Als Geschenk für ihren Vater zu dessen vierzigstem Geburtstag schreibt sie eine einaktige Tragödie, Herpes Rom , in der eine junge Frau von ihrem Vater, der teilweise eine Schlange zu sein scheint, gewürgt wird; da Louie noch keine Fremdsprache spricht, verwendet sie eine Sprache, die sie sich selbst ausgedacht hat.
    Während der Roman auf der Handlungsebene diversen Katastrophen zustrebt (Henny wird ihren langen Krieg schließlich verlieren), besteht seine innere Geschichte aus Sams Bemühungen, Louie festzuhalten und ihre Privatsprache zu zerstören. Immer wieder schwört er, ihren Geist zu brechen, behauptet, direkten telepathischen Zugang zu ihren Gedanken zu haben, beharrt darauf, dass sie Naturwissenschaftlerin werden und ihn bei seiner altruistischen Mission unterstützen solle, und nennt sie «mein dummes, kleines Lululein». Vor den versammelten anderen Kindern zwingt er sie, ihr Tagebuch zu entschlüsseln, damit alle sie auslachen. Er rezitiert Gedichte aus dem Aiden-Zyklus, über die er ebenfalls lacht, und als Miss Aiden einmal zum Essen zu den Pollits kommt, macht er sie Louie streitig, indem er ununterbrochen auf die Lehrerin einredet. Nachdem Herpes Rom aufgeführt worden ist, urkomisch und unverständlich, und Louie ihrem Vater die englische Übersetzung vorgelegt hat, verkündet Sam sein Urteil: «Etwas so Dämliches hab ich ja noch nie gesehen.»
    In einem Werk von geringerem Rang läse sich all dies womöglich wie eine düstere, abstrakte feministische Parabel, doch Stead hat bereits den Großteil des Buches darauf verwendet, die Pollits einzigartig und realistisch und witzig sein zu lassen und sie zu Charakteren zu machen, die so gut wie alles sagen und tun können; insbesondere hat sie verdeutlicht, welches Problem die Liebe für Louie darstellt (wie sehr sie sich, trotz allem, nach der bedingungslosen Zuneigung ihres Vaters sehnt), und so wird die Abstraktion unweigerlich konkret, die einander bekriegenden Archetypen bekommen das Fleisch des Mitgefühls auf die Knochen: Wir können nicht umhin, uns durch Louisas blutigen Seelenkampf mitschleifen zu lassen, in dem es für sie darum geht, sie selbst zu werden, und wir können nicht umhin, ihren Triumph zu bejubeln. Wie der Erzähler nüchtern bemerkt: «Das war das Familienleben.» Und eben dazu, die Geschichte dieses inneren Lebens zu erzählen, sind Romane, und nur Romane, da.

    Zumindest war das einmal so. Denn haben wir dieses ganze Zeug nicht hinter uns gelassen? Hochmütig-tyrannische Männer? Kinder als Accessoires des Narzissmus ihrer Eltern? Die Kernfamilie als rechtsfreie Zone seelischer Misshandlung? Wir sind doch den Krieg zwischen den Geschlechtern und zwischen den Generationen leid, weil diese Kriege so hässlich sind, und wer

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