Weiter weg
hätte die Hand gehoben und gesagt: «Ja!»
Eines Nachmittags war ich in einem Mietwagen mit drei einheimischen chinesischen Vogelbeobachtern in den Norden von Shanghai gefahren. Die künstliche Abenddämmerung hatte schon vor Stunden begonnen, aber richtig dunkel wurde es just in dem Moment, als wir uns am Rand des Naturreservats Yancheng aus dem Wagen zwängten und dem Vogelführer namens M. Caribou auf einem kleinen Feldweg folgten. Die Temperatur lag unter null. Die einzigen Farben waren verschieden dunkle Blaugrautöne. Ein nicht zu identifizierender Vogel brach aus Sträuchern hervor und flog tiefer in die Nacht hinein.
«Wohl eine Ammer», spekulierte Caribou.
«Es ist ja ziemlich dunkel», sagte ich schlotternd.
«Wir wollen das letzte Licht nutzen», sagte die schöne junge Frau, die sich Stinky nannte.
Es wurde noch dunkler. Unmittelbar vor mir stöberte der junge Mann namens Shadow einen, wie er sagte, Fasan auf. Ich hörte es und schaute mich hektisch um, versuchte, Konturen zu unterscheiden. Caribou führte uns an dem Wagen vorbei, in dem unser Fahrer bei voll aufgedrehter Heizung saß. Wir liefen blindlings eine Böschung hinab in ein Wäldchen aus stockartigen Bäumen, deren bleiche Rinde das Unterholz noch dunkler erscheinen ließ.
«Und was machen wir hier?», sagte ich.
«Könnten Waldschnepfen sein», sagte Caribou. «Die mögen feuchten Boden, wo die Bäume nicht zu dicht beieinanderstehen.»
Wir polterten in der Dunkelheit herum und hofften auf Waldschnepfen. Oben auf der Straße, zehn Meter von uns entfernt, rauschten Minibusse und Kleinlaster vorbei, schlingernd, hupend und Staub aufwirbelnd, den ich zwar schmeckte, aber nicht sah. Wir blieben stehen und horchten angespannt auf ein zwitscherndes Lied, das sich aber als Kugellagergeräusch eines nahenden Fahrrades erwies.
Stinky, Shadow und M. Caribou gebrauchten ihre Netz-Namen, wenn sie Englisch redeten. Stinky war Mutter einer Fünfjährigen und hatte vor zwei Jahren angefangen, Vögel zu beobachten. Per E-Mail hatten sie und ich einen Besuch des größten Naturreservats an der chinesischen Küste, Yancheng, vereinbart, und sie hatte mich überredet, statt eines offiziellen Führers ihren Freund Caribou zu engagieren, der für die Vogelsuche siebzig Dollar pro Tag verlangte. Ich hatte Stinky gefragt, ob ich sie tatsächlich Stinky nennen solle, und sie hatte es bejaht. Mit schwarzer Fleecemütze, Nylonmantel und Tourenhose, ebenfalls aus Nylon, war sie zu meinem Hotel gekommen. Ihr Freund Shadow, ein Biologiestudent mit einer geliehenen Wildkamera und jeder Menge Zeit, trug einen Daunenparka und eine dünne Kordhose. Die Fahrt führte uns zunächst durchs Herz des Jangtse-Deltas, das inzwischen fast zwanzig Prozent des chinesischen Bruttoinlandsprodukts ausmacht. Eine riesige Ebene mit Industrieanlagen, mittelhohen Wohnblocks und isolierten Streifen Ackerbau folgte auf die andere. Am südlichen Horizont zeigte sich beständig, gleich einer Fata Morgana in dem Winterlicht, ein mythisch überdimensionaler Bau – ein Kraftwerk, ein gläserner Finanztempel, ein steroidal aufgeblähter Restaurant-Hotel-Komplex, ein … Getreidespeicher?
Caribou, auf dem Vordersitz, suchte den Horizont mit gedämpfter Wachsamkeit ab. «Das Wort öko ist heutzutage in China sehr beliebt, man begegnet ihm überall», kommentierte er. «Aber richtig öko ist es gar nicht.»
«Bis vor vier, fünf Jahren hat in China überhaupt noch niemand Vögel beobachtet», sagte Stinky.
«Nein – das ist länger her», sagte Shadow. «Zehn Jahre!»
«Aber nur vier oder fünf Jahre in Shanghai», sagte Stinky.
Nördlich des Jangtse, in der Region mit Namen Subei, fuhren wir lange durch dichtbevölkerte, heruntergekommene Vorstädte, bis ich begriff, dass es sich gar nicht um Vorstädte handelte, sondern dass Subei eben so aussah. Die Häuser waren klotzig, ungestrichen, aufdringlich; nur die Dachlinien, die durchweg in einem kümmerlichen fernöstlichen Aufwärtsschwung endeten, boten ansatzweise ästhetische Erleichterung. Wir fuhren an Kanälen entlang, die mit dicken Schichten treibenden Mülls überzogen und zu beiden Seiten mit noch dickeren Ablagerungen gesäumt waren; Weiß und Rot waren die dominierenden Farben des Mülls, aber es gab auch sonnengebleichte Plastikäquivalente in jeder anderen Grundfarbe. Nur selten sah ich einen Baum, dessen Durchmesser mehr als zwanzig Zentimeter betrug. Gemüse war in engen Reihen auf Straßenböschungen, in den Gängen
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