Weites Land der Sehnsucht: Australien-Roman (German Edition)
neben ihr. Ihr schmaler Brustkorb hob und senkte sich, und dann war nichts mehr.
Sommer, 1867
Paddington, Sydney
Claire deckte ihren Vater sorgfältig zu und folgte dem Arzt in den Salon. Es war warm an diesem Abend. Ein kleines Feuer im Kamin sorgte noch zusätzlich für Wärme, hielt aber die Fliegen davon ab, in der Kühle ihres Hauses Zuflucht zu suchen. Auf dem Kaminsims lag zwischen zwei Kerzen ein duftender Kranz aus Eukalyptusblättern. Claire berührte die einfache Dekoration. Heute war Weihnachten.
» Er ist einfach nur müde, Claire.«
Der Arzt ähnelte in seinem schwarzen Anzug eher einer Krähe. Claire wusste, dass sie ihm eigentlich einen Sherry oder etwas von dem wässerigen Wein, den ihr Vater in der letzten Zeit immer trank, anbieten sollte, aber der Tag hatte schon viel zu lange gedauert. Sie wünschte, Mrs Cole würde kommen und den Arzt aus dem Haus komplimentieren, aber sie schlief bereits, da sie in der vergangenen Nacht am Bett ihres Vaters gewacht hatte.
» Wird er sich wieder erholen?« Sie musste diese Frage stellen, auch wenn sie sie hasste. In den vergangenen Wochen hatte Claire versucht, sich auf die Unvermeidlichkeiten des Lebens, wie Mrs Cole es nannte, vorzubereiten, aber ihre Kraft, auf die sie sich in der Vergangenheit immer hatte verlassen können, ließ langsam nach.
» Nun, meine Liebe, es kommt unweigerlich eine Zeit, in der ein Mensch genug erduldet hat.« Der Arzt tätschelte beruhigend ihren Arm. Die Enttäuschungen des Lebens hatten sich so tief in seine Züge eingegraben, dass es ihm beinahe unmöglich war zu lächeln. » Zumindest sind Sie ja gut versorgt. Das muss ein großer Trost für Ihren Vater sein.«
Claire wollte so schrecklich gerne mehr als das hören. Sie wollte wissen, ob ihr Vater in den nächsten Tagen wieder in seinem Lieblingssessel Platz nehmen konnte. Wie gerne wollte sie wieder neben ihm sitzen, von ihrem Unterricht berichten oder ihm eins der Musikstücke vorspielen, die sie mittlerweile recht gut beherrschte.
» Ihr Vater wünscht sich sicher, dass Sie stark sind, meine Liebe.«
» Ja, natürlich«, antwortete Claire. Das Sichere und Vertraute schwand bereits.
» Die Endlichkeit unseres Lebens macht es ja so kostbar. Denken Sie immer daran, meine Liebe.– Welche Pläne haben Sie für Ihre Zukunft?«
» Meine Zukunft?« Claire runzelte die Stirn. Sie wollte mit niemandem über Ihre Zukunft sprechen. Zum einen war es ihre Sache, und zum anderen vermutete sie, dass der gute Doktor sowieso schon an Wilkinson & Cross berichtet hatte, so dass alle über den Gesundheitszustand ihres Vaters Bescheid wussten. Sie ergriff eine Kerze vom Kaminsims und brachte den Arzt zur Tür. » Ich bin müde, Doktor. Danke für Ihr Kommen.«
» Sie wissen, wo ich bin, wenn Sie mich brauchen sollten.«
Claire wünschte dem Arzt eine gute Nacht und schloss hinter ihm ab. Die Frage nach ihrer Zukunft schien alle zu beschäftigen, denn Mrs Cole hatte sie auch schon danach befragt. Claire hatte naiverweise angenommen, sie könne weiter in diesem Haus leben, wenn die Zeit für ihren Vater gekommen war. Hier, umgeben von vertrauten Dingen, würden ihre Studien und ihr Musikunterricht ihr helfen, den Verlust ihres Vaters leichter zu verkraften. Als sie jedoch versucht hatte, Mrs Cole ihre Erwartungen zu erklären, hatte diese ihr fest und unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie ihr jetziges Leben nur durch die Gnade eines Unbekannten führte. Und Claire war auf einmal mit erschreckender Klarheit deutlich geworden, dass ihr ab jetzt alles zustoßen könnte. Ihr Wohltäter könnte das Interesse verlieren, auf einmal hätte sie kein Geld mehr, und ihre großartige Chance auf eine Ausbildung wäre vorüber. Und was würde aus ihr werden, wenn ihre schlimmsten Befürchtungen wahr würden? Diese Frage hatte sie Mrs Cole gestellt, und diese hatte ihr erwidert, dass dann nur noch eine arrangierte Ehe für Claire infrage käme.
Claire setzte sich in den Sessel ihres Vaters vor dem Kamin, zog einen gefalteten Brief aus der Tasche und entfaltete ihn mit einem misstrauischen Blick in Richtung von Mrs Coles Schlafzimmer. In den letzten Monaten hatte sie den Brief immer bei sich getragen. Ursprünglich hatte sie ihn versteckt, weil sie ihn entwendet hatte und sich deshalb schuldig fühlte, aber dann hatte sie nach und nach einen Plan entwickelt.
Früh an einem Morgen im September hatte Claire gesehen, wie Mrs Cole sich auf dem Weg hinter dem Haus mit einem Fremden
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