Weites Land der Sehnsucht: Australien-Roman (German Edition)
Allmächtiger!«, schrie er. » Allmächtiger!«
Angus studierte den verzerrten Winkel, in dem der Kopf seines Enkels da lag. Traurig blickte er seinen Sohn an. Dann entfernte er Sarahs blutige Bluse und wischte mit einem feuchten Lappen Blut und Schmutz von Camerons Gesicht. Schließlich legte er ein sauberes Geschirrhandtuch über die Bauchwunde.
» Mein Junge, mein lieber Junge.« Wie ein Mantra wiederholte Sue immer wieder dieselben Worte, als ob ihr jetzt erst klar würde, dass ihr Sohn tot war. » Ich wollte nicht, dass er mit dir geht, Sarah, ich habe es dir doch gesagt.«
Sie berührte Camerons kaltes Gesicht, als ob sie allein ihn wieder zum Leben erwecken könnte. Und einen wahnsinnigen Augenblick lang glaubte Sarah, es würde ihr wahrhaftig gelingen. Sie blickte auf die leblose Gestalt ihres Bruders und merkte kaum, dass Anthony ihr eine Decke um die Schultern und ihr blutverschmiertes Hemdchen legte.
» Oh Gott, Cameron.« Sie konnte ihm nicht ins Gesicht sehen, nicht in seine Augen, die gebrochen waren, als sie ihn im Arm hielt. Es waren die Augen des Menschen, der ihr der liebste auf der ganzen Welt war.
» Du dummes Gör.«
Verständnislos blickte Sarah ihre Mutter an.
Sue richtete sich auf. » Das ist deine Schuld.«
» Um Himmels willen, Ronald«, schrie Angus. » Schaff Sue hier heraus!«
» Lass mich los!« Sue versuchte, sich aus Ronalds Armen zu winden. » Du hast dir doch gar nichts aus ihm gemacht«, spuckte sie ihren Ehemann an. » Wie auch? Du bist ja nicht sein Vater!«
» Mein Gott, Sue. Überleg doch, was du sagst«, rief Ronald traurig aus.
» Es spielt ja sowieso keine Rolle mehr. Nichts spielt mehr eine Rolle.« Sue riss sich los, warf einen letzten, verzweifelten Blick auf ihren Sohn und ging hinaus.
Sarah blickte von ihrem Vater zu ihrem Großvater. » Was?« Sofort nahm sie ihr Großvater in die Arme, und sie schmiegte sich an seine starke Brust.
» Cameron war dein Halbbruder«, sagte er. » Sue hatte eine Affäre.«
In Sarahs Kopf überschlugen sich die Bilder. Alles pochte; ein schreiendes Baby, ein Mann, ein Fremder, der Bruder, der nicht ihr Bruder war.
» Sarah? Sarah, ist alles in Ordnung?«
Sie bekam auf einmal keine Luft mehr.
» Anthony, bitte, kümmere du dich um sie.« Angus reichte Sarah weiter an Anthony. » Wir müssen…« Er zögerte. » Ronald, du holst besser ein Laken, Junge.«
Ronald zitterte am ganzen Körper. Er nickt.
» Ist schon okay, Junge.« Jetzt nahm Angus seinen Sohn in die Arme. » Ist schon okay.«
» Aber du wusstest, dass er nicht mein Sohn war.«
Angus klopfte Ronald rau auf den Rücken. » Ist schon okay. Ist schon okay.«
Sarah ließ sich von Anthony das Blut von den Händen waschen. Sie schlüpfte in das Hemd, das er ihr reichte, trank Wasser aus dem Glas, das er ihr brachte. Auch später, nachdem der Krankenwagen Cameron abgeholt hatte, blieb Anthony bei ihr. Sie hielten einander bis tief in die Nacht eng umschlungen, an die Wand des Esszimmers gelehnt, des Zimmers, das ihr Bruder nie wieder betreten würde.
Sue Gordon zog sich sorgfältig an. Aus ihrem Schrank wählte sie einen dunkelblauen Rock und ein dazu passendes Jackett– die Schulterpolster gaben ihrer molligen Figur Form. Eine weiße Bluse, goldene Ohrringe und ein goldener Ring komplettierten ihr Aussehen. Ohne sich noch einmal im Spiegel zu betrachten, ging sie gemächlich in Camerons Zimmer, schloss die Tür und setzte sich auf sein Bett.
Seine schmutzigen Kleider lagen noch in einem Haufen in der Ecke, sein Bett war ungemacht, und auf der Kommode lagen Kassetten. Ihre Finger krallten sich in die Bettwäsche. Erst letzte Nacht war ihr Jungein ihren Träumen zu ihr gekommen. Beide waren sie dagewesen.
Auf ihrer Hochzeit hatte Sue zum ersten Mal in die unergründlichen blauen Augen von Tom Conroy geblickt. Später empfand sie diesen Moment als kleines Geschenk der Engel, wenn es so etwas überhaupt gab. Als sie Arm in Arm mit ihrem frischgebackenen Ehemann den Gang entlanggeschritten war, hatte Tom, der damals noch ein Fremder für sie war, ihr freundlich zugezwinkert. Es war, als ob sie ein Geheimnis teilten, etwas Ungeheuerliches, das nur ihnen beiden bekannt war. Später, auf dem Hochzeitsempfang, hatten sie miteinander getanzt. Nicht nur einmal aus Höflichkeit, sondern zweimal. Selbst heute noch kam ihr das völlig unschuldig vor. Schließlich kaufte er die Wolle von Wangallon, hatte eine achtbare Position in den Kreisen der Busch-Gesellschaft. In den
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