Weites Land der Sehnsucht: Australien-Roman (German Edition)
schließlich auf und blickte sich im Zimmer ihres toten Sohnes um. Es war Zeit, sich von ihm, von der Vergangenheit und von der Zukunft zu verabschieden. Sie war zu alt, um neu anzufangen. Selbst wenn sie es gewollt hätte, wäre es nicht gegangen. Sie hatte das Gefühl, als sei in ihrem Kopf alles in winzige Fetzen zerrissen. Es war, als ob eine andere Person in ihrem Hirn säße und methodisch all ihre Gedanken auseinandernehmen würde. Aber das war jetzt auch egal, dachte sie, als sie die Schlafzimmertür hinter sich schloss. Manche Erinnerungen schmerzten einfach zu sehr.
Halb versteckt hinter einem großen Eukalyptusbaum beobachtete Sarah, wie Anthony vom Pferd stieg, einen Stock ergriff und ins schlammige Wasser warf. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Es war ihr immer noch unbegreiflich, dass vor einer knappen Woche ihr Bruder beerdigt worden war. Sie fühlte sich schwach und betrogen, und doch kehrten ihre Gedanken immer wieder zu Camerons wilden Scherzen, seinen dummen Witzen und den endlosen Ritten in den Busch zurück. Sie drückte die Wange an die kühle Rinde des Baums und sah hinüber zu Anthony. Ihre Eltern waren am Boden zerstört. Sue zog sich immer mehr aus der Realität zurück, und Sarah litt darunter, dass niemand ihr die Wahrheit gesagt hatte. Cameron war ihr Halbbruder gewesen.
Sarah folgte Anthonys Bewegungen mit ihren Blicken. Er trat zu dem Baum, in den die beiden Freunde ihre Messer geschleudert hatten, bevor Cameron den Wildschweinen hinterhergekrochen war. Langsam ging Anthony um den verkrümmten Stamm herum, aber Sarah wusste, dass er keine Einstichstellen finden würde, weil auch sie schon jeden Zentimeter untersucht hatte. Sie beobachtete, wie er mit den Händen über die Rinde fuhr. Dann kniete er sich hin und hob einen Stein auf. Sorgfältig wog er ihn in beiden Händen und warf ihn dann tief in das Gehölz vor sich.
Als er sich vorbeugte und die Hände vor das Gesicht schlug, flogen die Vögel kreischend auf. Sarah hatte noch nie eine so durchdringende Totenklage gehört. Erst da wusste sie, wie sehr Anthony ihren Bruder geliebt hatte.
Er war nicht mehr da. Cameron war nicht mehr da. Schmerzerfüllt dachte sie an die Beerdigung. Sue hatte sich über seinen Sarg geworfen, Ronald hatte sich kaum aufrecht halten können. Es waren viele Reden gehalten worden, aber nichts hatte sie wirklich berührt. Als alle abgefahren waren, hatte Sarah sich vor sein Grab gekniet. Die Erde war feucht gewesen, ein Vogel hatte gesungen, und sie hatte fröstelnd die Arme um sich geschlungen, weil sie auf einmal die Kälte der Einsamkeit so stark empfunden hatte.
Anthony jedoch hatte auf sie gewartet. Er hatte sich neben sie gekniet, sie gestützt, und erst, als er sich wieder aufgerichtet hatte, hatte Sarah ihm seinen eigenen Schmerz angesehen. Und doch war er, als alle anderen schon weg waren, für sie da gewesen. Dort am Grab hatte sie seine Hand ergriffen. Warum konnte sie das jetzt nicht mehr?
» Alles in Ordnung?«, fragte sie schließlich, wobei sie ihren ganzen Mut zusammennehmen musste.
» Nein. Dein Großvater hat gesagt, du gehst. Du hast doch gesagt, du würdest Wangallon nie verlassen, Sarah.« Er blickte zum gegenüberliegenden Ufer des Flussbetts. » Ich weiß, wie schwer alles für dich war, aber wenn wir es versuchen…«
» Was versuchen? Hier wird es für mich nie wieder so sein wie früher, Anthony.« Sie trat ans Ufer, so dass die Spitzen ihrer Stiefel im Schlamm einsanken. Auf der anderen Seite stolzierte ein Brolgakranich, und hinter einem umgestürzten Baumstamm blitzten die graublauen Flügel seines Gefährten auf. Zu dem Paar gesellten sich sechs weitere Vögel, die im Ufersand einen eleganten Tanz vollführten.
Hier hatten sie zu dritt gelegen, dachte Sarah. Es kam ihr vor, als sei es erst gestern gewesen. Sie hatten gebadet, und anschließend hatte Cameron sich nackt ausgezogen, sich im Schlamm gewälzt und war wie ein Irrer um sie herumgesprungen. Sie hatten ihn schließlich fest auf den Rücken klopfen müssen, damit er nicht an seinem eigenen Lachen erstickte. Sarah musste unwillkürlich lächeln.
» Er ist überall hier– sein Lachen, seine Stimme, in den Bäumen, im Wind. Es tut mir zu weh, hierzubleiben.«
» Ich bleibe doch auch. Ich liebe diesen Ort wie meine Heimat. Es ist auch deine Heimat, Sarah.«
» Bevor du kamst, Anthony, gab es hier nur meinen Bruder und mich. Unsere Eltern, na ja… Großvater findet auch, dass ich für eine Weile weggehen
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