Weites Land der Sehnsucht: Australien-Roman (German Edition)
Gebäude an. Es sah aus wie eine belagerte Festung. Und ob es jetzt nun den Wassermassen standhielt oder nicht, das wahre Opfer war Sarahs Mutter. Sarah verstand, wie sie sich fühlte. Sue trauerte immer noch um Cameron, und in ihrem Haus befanden sich seine Kleidung, seine Bücher, seine Kassettensammlung. Wenn man sein Schlafzimmer betrat, konnte man ihn beinahe noch riechen. Niemand wollte, dass die letzte Erinnerung an sein kurzes Leben davongespült wurde.
Sarah band das Boot sorgfältig mit vier dicken Knoten am Torpfosten fest. Als sie sich umdrehte, blickte sie in das leblose Gesicht eines kleinen Kängurus, das kaum aus dem Beutel der Mutter herausragte. Sie schlug nach den Schmeißfliegen und den Moskitos, spürte, wie ihr das stinkende Wasser bis an die Schenkel drang, und wünschte, sie wäre nicht hierhergekommen. Erst vor zehn Tagen hatte sie in ihrer Dunkelkammer die Fotografie einer jungen Familie entwickelt. Die Aufnahme, die sie im Centennial Park zwischen picknickenden Familien, Spaziergängern, Radfahrern und Liebespaaren gemacht hatte, war großartig geworden. Sie hatte sie daran erinnert, dass die Aufträge, die ihr Geld einbrachten, gar nicht so schlecht waren, zumal sie ihr erlaubten, ihrer wahren Leidenschaft nachzugehen: dem Fotografieren von Landschaften.
» Geh du voraus, Dad«, sagte sie zu ihrem Vater, als sie von dem sonnigen Tag im Centennial Park wieder in der Realität ankam.
» Fass nichts an und pass auf Schlangen und Spinnen auf.«
Sarah schauderte, als sie den hinteren Weg entlangwatete. Sie dachte an die einzige Person, die diese Situation erträglich machen könnte– Anthony. Sie schickten sich zwar immer noch die obligatorische Weihnachtskarte, aber sie hatte ihn seit fast drei Jahren nicht mehr gesehen. Wenn sie in den Weihnachtsferien nach Norden kam, fuhr er nach Süden zu seiner Familie. Sie lebten jetzt unterschiedliche Leben. Die Zeit veränderte alles und jeden.
Drinnen war es düster wie in einem untergegangenen Schiff. Sogar die Luft roch dumpf, nach verdorbenen Eiern. In der Küche und im Esszimmer standen immer noch die Überreste des Weihnachtsessens. Stühle und andere Möbel lagen über Tellern und Besteck auf dem Tisch. Schmeißfliegen brummten darüber. Sarah watete hinter ihrem Vater her durch zerrissene Papiergirlanden, kaputte Christbaumkugeln und Lametta. Der Schein ihrer Taschenlampe fiel auf Weihnachtskarten, die sich im Wasser aufgelöst hatten.
Nicht ein einziges Zimmer war unbeschädigt geblieben, und die Möbel, die nicht irgendwo hochgestellt worden waren, waren von der Gewalt der Flut umgeworfen worden und ruiniert. Durch das gesamte Haus floss Wasser, und der Gestank nach Kadavern und aufgequollenem Holz bereitete ihr Übelkeit. Im Flur vor Camerons Zimmer blieb Sarah stehen. Die Tür war geschlossen. Sie biss die Zähne zusammen und ging weiter. In ihrem ehemaligen Schlafzimmer schaute sie in ihre Kommode, die jetzt auf ihrem Bett stand. Sie glaubte eigentlich nicht, dass sie etwas Wichtiges vergessen hatte, aber in einer der Schubladen klapperte es: der goldene Armreif. Sie nahm ihn heraus, steckte ihn ihre Hosentasche und ging wieder hinaus.
» Da ist eine Schlange!«
» Scheiße! Wo?« Sarah stand bis zu den Knien im Wasser.
» Sie ist im Gästezimmer verschwunden.«
Das Drahtnetz auf der vorderen Veranda bog sich unter einem Berg von Eidechsen, Spinnen, Ameisen und Tausendfüßlern, die in einer wogenden Masse übereinander krochen. Wo sich sonst der Garten befunden hatte, ragten jetzt nur noch die Wipfel der Bäume aus dem Wasser.
» Das erträgt deine Mutter nicht.«
Sarah stellte sich die einsame Gestalt ihrer Mutter am Ende ihres Gartens vor. Ein Garten, den sie dem Staub im Outback abgerungen hatte, mit unzähligen Eimern Wasser, die sie im Anfang hineingeschleppt hatte, bevor die Bewässerungsrohre gelegt wurden. Wie viele Bäume und Sträucher waren über die Jahre eingegangen und neu gepflanzt worden? In Sarahs Erinnerung mischten sich Eukalyptus, Sandelholz, Pappeln, Bougainvillea, Stiefmütterchen und Geranien in Form und Farbe. Nur eine Pflanze stand ihr klar vor Augen, eine Pflanze, die immer wieder einging, und die Sue hartnäckig jedes Jahr aufs Neue pflanzte: Cestrum nocturnum. Selbst jetzt konnte sie den schweren nächtlichen Duft riechen, der ihre Mutter an ihre Kindheit an der Küste erinnerte.
» Es ist nicht viel zu retten, Dad.«
» Nein.« Sie verließen die Veranda wieder und wateten vorsichtig den Flur
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